Erst als sich die Aufzugstür mit einem sanften Wutsch schloss, hatte ich das Gefühl, dass sich mein Herzschlag wieder normalisierte und das Wummern in meinen Ohren langsam weniger wurde. Was den zweifelhaften Effekt hatte, dass mir nach dem Aussteigen sofort das Geräusch auffiel, das von meinem Po ausging. Raschelte meinen normalen Windeln auch so laut? Ich war mir sicher, dass jeder in diesem riesigen Gebäude das Knistern hören konnte, das bei jedem meiner Schritte entstand. Natürlich sagte mir mein Verstand, dass das albern war. Und außerdem beachteten mich die Leute um uns herum überhaupt nicht. Ich fand's trotzdem extrem peinlich und erinnerte mich deshalb sehr gerne daran, was Dad vorhin gesagt hatte: Dass das Thema Windel ab morgen tagsüber beendet sein musste! Und das sah ich ganz genauso!
Bis dahin blieb mir nichts anderes übrig, als die Zähne zusammen zu beißen. Ein kleiner Lichtblick war die Kaffeepause, die Dad für die nächsten 30 Minuten eingeplant hatte. Danach durften wir dann endlich zu unserem Auto. Wobei ich nach dem super-süßen Trockenobst überhaupt keine Lust auf Kuchen hatte. Zum Glück gab es in dem Café, das wie ein alte Autowerkstatt eingerichtet war, auch herzhafte überbackene Baguettes. Darauf hatte ich jetzt richtig Bock! Und dazu eine Johannisbeer-Schorle. Diese Kombination brachte langsam meine gute Laune zurück. Eine Maßnahme, die bei Dad nicht nötig war. Die Aussicht auf sein neues Auto konnte ihm keine Stinkewindel der Welt die Laune vermiesen! Immerhin bekam ich es tatsächlich hin, mich weder mit dem fettigen Baguette, noch mit der Johannisbeerschorle einzusauen. Das fand ich ziemlich erleichternd - vor allem deshalb, weil es in Sachen Klamotten für mich jetzt keinen Plan B mehr gab.
Als Dad und ich knappe 20 Minuten später zu der kleinen Lounge kamen, in der die Kunden von einem persönlichen Betreuer zu ihren neuen Autos gebracht wurden, blieb mir fast das Herz stehen. Nicht, weil da unser Auto stand. Soweit waren wir noch nicht. Sondern, weil da Matheo neben seinen Eltern saß und sich ganz offensichtlich sehr unwohl in seiner Haut fühlte. Das konnte unmöglich nur daran liegen, dass er sich vorhin in der Kids World in die Hose gemacht hatte und deshalb statt seinen coolen Markensachen nach wie vor in der gelben Jogginghose und den Regenbogen-Socken steckte, die seine Mutter ziemlich sicher in der Rest-Kiste der Kids World gefunden hatte. Ihn ignorieren ging nicht. Und deshalb versuchte ich, die Sache so normal wie möglich anzugehen. Matheos Eltern ließen sich gerade von einem Mitarbeiter die Tiefen ihre neues Infotainment-Systems im Auto erklären.
Matheo saß gegenüber der Tür in einer Ecke, die ganz offensichtlich für Kinder eingerichtet war. Ein paar Spielsachen. Und Bücher. Zeitschriften. Matheo blätterte lustlos in einem Fußball-Magazin und brachte ein gequältes Grinsen zustande, als ich mich mit einem leisen "Hey! neben ihn setzte und krampfhaft versuchte, den zu kurzen Pulli irgendwie so zurecht zu zupfen, dass man die Windel nicht sofort sehen konnte. Erfolglos. Mit einem "Ich hab die Windel vorhin schon gesehen!", unterbrach Matheo trocken meine Versuche. Zack. Schon schalteten meine Ohren auf Alarm. Eigentlich völlig grundlos. Weil er ja nur die Wahrheit sagte. Trotzdem. Mit so viel Direktheit konnte ich nur schwer umgehen. Wobei Matheo das offensichtlich gar nicht fies gemeint hatte. "Hab's vorhin nicht mehr aufs Klo geschafft", räumte er ein, was ich eh schon wusste. "Mama hat einen Riesen-Aufstand gemacht und spricht seitdem praktisch kein Wort mehr mit mir.
Und dann gab's in dieser Scheiß-Klamottenkiste nur noch diese peinliche Strumpfhose und die ätzende Jogginghose!" Okay. Keine Strümpfe. Sondern eine Strumpfhose. Willkommen im Club. Wobei er ja wenigstens eine Hose drüber hatte! Wir waren allerdings nicht nur zusammen im Strumpfhosen-Club, sondern teilten uns sogar eine Doppel-Mitgliedschaft. Matheo hatte nämlich auch eine Windel an. Und das verschlug mir dann doch die Sprache. Die Erklärung war aber doch ziemlich pragmatisch: Nachdem Matheos Mama nirgendwo Unterwäsche auftreiben konnte, ließ sie sich eine der Wechselwindeln geben, die das Personal hier offensichtlich überall vorrätig hatte. Ich musste grinsen. Und war froh, dass Matheo das richtig einordnete. Wobei mich seine nächste Frage überraschte. Er wollte nämlich wissen, wieviel so eine Windel aushielt.
Seine Mama war tatsächlich stinksauer und hatte ihm angedroht, dass er sich beim nächsten Vorfall für einen Monat von seiner Spielkonsole verabschieden könne! Und deshalb hatte Matheo gar nicht erst versucht, sie darum zu bitten, ihm die Windel auszuziehen, als er mal pinkeln musste. Ich versuchte ihn zu beruhigen und erklärte ihm, dass die ziemlich sicher 4 mal Pipi aushalten würde. Wobei das nicht sein Problem war. "Das meine ich nicht!" Oh. Ups. Matheo musste kacken. Und ich konnte ihm ansehen, dass das Thema tatsächlich eine gewisse Dringlichkeit besaß. Komplette Ratlosigkeit. Ich wollte ihm gerade sagen, dass es vielleicht helfen könnte, sich auf ein Bein zu setzen, um die Sache noch etwas rauszuzögern, als Matheo sein Körpergewicht für einen Augenblick zu Seite verlagerte und dem Druck nachgab.
Wahrscheinlich wollte er nur ein bisschen in die Windel lassen. Aber das klappte nie. Was ich nur Sekunden später an seinen Augen ablesen konnte. Zwei, drei leise Pupse, ein kurzer Schnaufer. Dann war er fertig. Und zwar auch mit den Nerven. Weil seine Eltern ihm genau in diesem Moment signalisierten, dass es jetzt losging. Ich sah, dass Matheo Tränen in den Augen hatte, als er aufstand und den beiden in Richtung Auslieferungsbox folgte. Abgesehen davon, dass sich seine volle Windel jetzt auch sehr deutlich unter der knappen Jogginghose abzeichnete, würde es keine 5 Minuten dauern, bis seine Mama mitbekommen würde, dass ihr Sohn eine volle Windel hatte. Weil der Duft, den er hinter sich herzog, ziemlich eindeutig war.
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Alles (nicht) nur geträumt
General FictionNoah ist fast 10. Gut in der Schule, fleißig und eigentlich ziemlich beliebt. Er lebt mit seinem Dad in einem beschaulichen Reihenhäuschen. Ein Leben wie aus dem Bilderbuch. Aber Noah hat ein Problem. Er würde so gerne mal bei seinen Kumpels übernac...