Teil 2

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2,5 Tassen Kakao, 2 Croissants und einen ganzen Berg Obst später, gab Dad mir grünes Licht für eine ausgiebige Zocker-Pause. Yes! Ich feuerte meinen benutzten Teller mit Schwung in die Spülmaschine und startete durch in die Richtung, in der mein Zimmer lag. Üblicherweise störte mich die dicke Nachtwindel beim Rennen. Aber mit Blick auf die erste Runde Sim-Racing war mir das knisternde Paket egal, das da zwischen meinen Beinen hing. Ich platzierte mich auf de bequemen Sessel, der die Ecke in meine Zimmer als Gaming-Zone definierte, zog mir die großen Kopfhörer auf und Startete in die ersten Trainingsrunden. 5 Minuten später war im voll im Tunnel. Selbst wenn Dad direkt neben mir gestanden hätte, wäre es praktisch unmöglich gewesen, zu mir durchzudringen.

Genau aus diesem Grund war es auch gar keine schlechte Idee, dass ich eine Windel drunter hatte. Weil nach gut einer Stunden die zweieinhalb Tassen Kakao wieder raus wollten. Nicht sonderlich überraschend. Aber natürlich war es zu diesem Zeitpunkt völlig ausgeschlossen, dass eine Pause einlegen konnte. Deshalb blendete ich alle Signale komplett aus, die mir kein Körper sendete. Erst, als es ein paar Minuten später plötzlich schlagartig sehr warm in meiner Windel wurde, ließ mein Bewusstsein für eine Millisekunde zu, dass ich bewusst wahrnahm, was gerade geschah. Ich pinkelte mir in die Windel. Ganz theoretisch hätte ich es vielleicht hinbekommen, die Sache zu stoppen. Dafür hätte ich mich aber voll und ganz auf meine Blase konzentrieren müssen - was wiederum verheerende Folgen auf den Rennverlauf gehabt hätte. Und die Windel war ja jetzt eh schon nass. Also: weiter ignorieren. Jetzt, wo der Druck in der Blase weg war, konnte ich mich auch deutlich besser konzentrieren und pulverisierte meinen eigenen Streckenrekord. Würde ich jetzt als echter Rennfahrer zum Siegerinterview antreten, müsste ich mich weniger bei meinen Eltern, sondern vor allem bei der Firma Seni für die super-saugstarken Quattro-Windeln bedanken. Ohne die wäre diese Bestleistung gar nicht möglich gewesen. Ich fand die Vorstellung witzig. Mein Dad eher nicht, als ich kurz vorm Mittagessen erneut auf der Wickelunterlage auf dem Sofa lag. Die Vorstellung, dass ein knapp Zehnjähriger vor der Konsole sitzt und lieber in die Windel macht, als das Spiel kurz zu pausieren, passte ihm gar nicht in den Kram. Egal, wie oft ich ihm erklärte, dass auch der eine oder andere Profi-Gamer schon mit einer Windel auf einem Turnier gesichtet wurde. Aber er war halt auch kein Gamer.

Immerhin ersparte er mir eine Moralpredigt. Stattdessen betete er mir nochmal vor, was ich nach dem Essen und vor unserer Abfahrt unbedingt noch zu erledigen hatte. Eigentlich war meine Tasche schon gepackt. Theoretisch nur noch mein Kulturbeutel aus dem Badezimmer. Und dann noch die Klamotten, die ich auf der Fahrt und im Zug tragen würde. Wobei es vorher eine viel wichtigere Frage zu klären gab. Wann die Windel im Zug ins Spiel kam. Wir hatten ein eigenes Abteil, theoretisch war es also kein Problem, dass Dad mich während der Fahrt für die Nacht wickelte. Obwohl ich überhaupt keine Ahnung hatte, wie es in so einem Nachtzug aussah, fand ich die Vorstellung unangenehm, im Zug gewickelt zu werden. Alternativ gab's die Option, die frische Windel einfach anzulassen und schon mit Windel einzusteigen. Hieß aber, dass ich das erste Mal seit zwei Jahren für 24h eine Windel tragen würde. Auch schwierig. Wobei ich mich zum Schluss tatsächlich für diese Option entschied.

Und deshalb schob Dad mir, nachdem er mich sauber gemacht und die nasse Windel entsorgt hatte, auch gleich die nächste Super Seni Quattro unter den Po. Dann noch eine dicke Schicht Pflegecreme. Drüber den grauen Langarmbody von vorhin. Dazu eine hellgrüne Strickstrumpfhose. Drüber würde nachher nur noch ein warmer (orangener) Softshell-Overall kommen. Und warme Klett-Stiefel mit grüner Drachen-Deko.

Und genau so stieg ich kurz vor 16 Uhr in das Taxi, das Dad und mich zu dem kleinen Provinzbahnhof im Nachbarort brachte, von wo aus uns eine Regionalbahn zum nächsten Fernbahnhof gondeln würde. Ich kannte die Strecke. 70 Minuten Fahrt. Gar nicht, weil die Entfernung so groß war. Sondern weil die Bimmelbahn praktisch an jeder Milchkanne anhielt. Ich fummelte meine Ärmel aus dem Overall und setzte mich auf das Oberteil. Sonst wäre es hier drin viel zu warm geworden. Dad versuchte die Langeweile damit zu überbrücken, mir nochmal alle Bilder unseres neuen Autos zu zeigen - was ihn deutlich mehr begeisterte, als mich. Aber so lange ich das Teil noch nicht selbst fahren durfte, war's für mich einfach nur ein Transportmittel. Immerhin: die Foto-Session knabberte 20 Minuten von der 70-Minuten-Uhr. Den Rest würde ich mit zwei Comics rumkriegen, die ich in den kleinen Rucksack gepackt hatte, der neben dem Lesestoff auch noch jede Menge Spielzeug-Kleinkram enthielt.

Das Problem war: Die Comics "reichten" nicht. Weil wir nämlich nicht wie geplant 70 Minuten unterwegs waren. Sondern beinahe doppelt so lange. Weichenstörung, erklärte der Zugchef nach ein paar Minuten der Ungewissheit. Was unseren Nachtzug anging, machte ich mir keine Gedanken. Ich wusste, dass Dad fast 2 Stunden Umsteige-Puffer eingebaut hatte. Der Grund, warum ich von Minuten zu Minuten nervöser wurde, lag ganz woanders. In meiner Windel. Oder genauer: noch nicht in meiner Windel. Das Mittagessen wollte wieder raus. Die nächste Toilette war nicht allzu weit entfernt. Das konnte also funktionieren, wenn Dad mitkam und mir dort schnell die Windel auszog.

Soweit kam's aber gar nicht. Weil das Stille Örtchen schlicht gesperrt war. Kaputt. Also auf zum nächsten Klo - wo die Sache nicht besser aussah. Weiter zu Toilette Nummer 3: defekt. Ich trippelte mittlerweile nur noch auf Zehenspitzen, um zu verhindern, die Kontrolle zu verlieren. Bei der vierten und letzten Toilette sah es dann besser aus. Sie schien zu funktionieren und war auch noch frei. Also rein da und schnell die Tür verschließen. Ich wusste, dass es jetzt auf Sekunden ankam. Es konnte aber noch klappen. Hätte es auch. Wenn diese bescheuerte Regionalbahn nicht genau in dem Augenblick eine sehr unsanfte Vollbremsung eingelegt hätte. Aus heiterem Himmel. Dad hatte kein großes Problem, der war so breit, dass er nur ein kleines Stück gegen die Wand gedrückt wurde. Bei mir war das anders. Um nicht gegen die Waschtisch-Armatur zu donnern, vor der ich stand, suchte ich mit beiden Händen gleichzeitig halt und verkrallte mich im harten Kunststoff des Waschbeckens. Das half. Allerdings nur soweit, dass ich ohne körperliche Blessuren davonkam. Dafür brach fast gleichzeitig die dicke Mauer aus Selbstbeherrschung und Körperspannung zusammen, mit deren Hilfe ich es bis jetzt geschafft hatte, meinen Darmausgang zu kontrollieren. Diese Konzentration wurde jetzt woanders gebraucht.

Ich wusste, dass ich verloren hatte und gab dem Druck nach. Den Rest kannte ich. Der warme, matschige Brei, der meine Windel fast explosionsartig ausfüllte. Das Gefühl der Niederlage. Das Pipi, das der Windel kurz darauf den Rest gab. Dad reagierte souverän wir immer. Er machte kein Drama draus, erklärte mir aber, dass er mich hier im Zug auf keinen Fall wickeln konnte. Ich musste bis zum Umsteigen so klar kommen. Das war, gemessen an der Aufnahmefähigkeit meiner Windel, kein wirkliches Problem. In spätestens 60 Minuten würden wir in unserem Nachtzug-Abteil sitzen. Das hielt die Seni locker aus. Mein Problem war eher, dass ich grundsätzlich davon ausging, dass man es mir ansehen konnte, wenn ich mit einer vollen Windel durch die Gegend lief. Was natürlich Unsinn war.

Erstens war der Zug nur spärlich besetzt. Und durch den weiten Overall war mein Gang mit voller Windel nicht watscheliger, als vorher. Und durch die warm-muffige Luft in den alten Wagen viel auch das Geruchs-Thema kaum ins Gewicht. Als wir zurück zu unseren Plätzen kamen, hatte ich den Unfall bereits ganz gut weggesteckt. Erst, als ich mich etwas zu schwungvoll auf meinen Sitz fallen ließ und dabei die kalte, matschige Masse spürte, die sich weiter in meiner Windel verteilte, blitzte nochmal kurz dieses Gefühl des Versagens auf. Ich unterdrückte den Reflex, mir sofort den Windel vom Körper reißen zu wollen, fummelte mir eines meiner Lieblings-Quartett-Spiele aus dem Rucksack und versuchte mit damit abzulenken, dass ich die Leistungswerte der dort aufgeführten Baumaschinen auswendig lernte. Das half immer.

Alles (nicht) nur geträumtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt