Weil die Erlebniswelt des Herstellers etwas außerhalb lag, war die Fahrt gleichzeitig so eine Art Sightseeing-Tour. Die 45 Minuten bis zum Eingang des riesigen Glas-Komplexes vergingen so wie im Flug. Die Ankunft verlief dann aber deutlich anders, als geplant. Nach der Begrüßung durch zwei Mitarbeiter des Automobilherstellers bekamen alle, die mit uns im Bus saßen nämlich mitgeteilt, dass es wegen eines Softwareproblems gestern nicht möglich war, alle für die Übergabe vorgesehenen Fahrzeuge vorzubereiten. Der Rückstand werde gerade aufgeholt, allerdings mussten dennoch alle Fahrzeugübergaben für den heutigen Tag neu terminiert werden. Das war für die fast 25 Leute um uns herum ein ganz schöner Schock. Immerhin hatte das Team des Autoherstellers für alle Kunden ein Alternativprogramm zusammengestellt. Wir durften alle Angebote der angeschlossenen Erlebniswelt kostenlos nutzen. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Aber mein Dad schon. Dieses Entertainment-Paket kostete eigentlich fast 400 Euro pro Person. Entsprechend egal war es ihm jetzt auch, dass unsere Fahrzeugübergabe erst um 16:30 Uhr stattfinden würde. Langweilig würde uns garantiert nicht werden.
Nachdem uns die beiden Mitarbeiter mit Armbändern versorgt hatten, mit denen wir Zugang zu allen Bereichen hatten, zogen wir uns kurz zu einer kurzen Lagebesprechung zurück. Mein Dad wollte unbedingt eine interaktive Führung durch das multimediale Firmenmuseum machen. Schon das Wort "Museum" löste bei mir Fluchtgedanken aus. Mein Dad nahm's mit Humor und so beschlossen wir gemeinsam, dass er mich in den nächsten 90 Minuten in der "Kids World" parken würde. Das war eine eigene kleine Halle, in der es von der Kleinkindbetreuung über eine kleine Kletterhalle bis hin zum Kinderrestaurant alles gab, was man als Kind für ein paar spaßige Stunden so brauchte. Alles unter Aufsicht, so das niemand verloren ging und im Zweifel die Eltern per Kurznachricht informiert werden konnten. Fand ich super. Die Sache mit der Betreuung irritierte mich ganz kurz. Ich war zu alt für so ein Kinderprogramm, wie ich es aus einem schwedischen Möbelhaus kannte. Aber darum ging es in diesem Fall auch gar nicht.
Die Betreuung war für Kinder gedacht, die noch keine 6 Jahre alt waren. Alle Älteren konnten sich in der Kids World frei bewegen. Nur wer raus oder zurück zu seinen Eltern wollte, brauchte dafür jemand vom Team. Das leuchtete mir ein. Nach dem Check-in bei einem super-netten jungen Mitarbeiter, der mir auch auf einem Display alle Bereiche der Kids World zeigte, half mir mein Dad noch, meine Stiefel, den Softshell-Overall, meine Mütze sowie die Handschuhe in einem kleinen Schließfach zu verstauen und die Anti-Rutsch-Socken anzuziehen, die hier jeder tragen musste, der Angebote der Kids World nutzen wollten. Dann noch ein kurzer Schmatzer auf die Stirn und schon trennten sich unsere Wege. Mein Dad würde mich erst um 13 Uhr abholen. Da hatten wir ein Date für eine Werksführung. Anschließend dann noch ein Abstecher in eines der IMAX-Kinos, bevor wir zu "unserem" neuen Auto durften. Mittagessen würde ich im Kinderrestaurant. Ich mochte den Plan.
Und brauchte auch gar nicht lange, bis ich "meinen" Bereich in der Kids World entdeckt hatte. Zwar gab's hier keine Computer- oder Konsolenspiele, dafür aber eine riesige Lego-Ecke, in der es tatsächlich alle Bausätze gab, die zu meinem Lieblings-Konsolenspiel passten. Ein Traum! Vor allem deshalb, weil Dad überhaupt nichts von diesen Lego-Bausätzen hielt. Ich hatte zwar Unmengen von Legos, aber fast keine Bausätze. Dad war es viel wichtiger, selbst kreativ zu sein. Auch okay. Aber das hier war natürlich aus Gamer-Sicht etwas ganz anderes! Und zu meiner Überraschung war ich nicht lange mit meiner Begeisterung alleine! Auf der Suche nach einem ganz bestimmten Kettenantrieb für einen riesigen Offroad-LKW traf ich Matheo.
Der war kurz vor mir in der Kids World geparkt worden, kam eigentlich aus Berlin und war mit seinen Eltern hier, die heute eine ziemlich teure Luxuslimousine abholen wollten. Matheo war 3 Monate älter als ich. Hatte eine ziemlich große Klappe und ein wirklich beeindruckendes Selbstvertrauen. Abgesehen von seiner Vorliebe für das gleiche Computerspiel war er praktisch das genaue Gegenteil von mir. Aber ich mochte ihn irgendwie. Und auf eine seltsame Art fand er mich wohl ebenfalls ganz interessant. Auch wenn er sich zum Beispiel überhaupt nicht vorstellen konnte, warum jemand in unserem Alter freiwillig in einer Latzhose rumlief. Er selbst trug eine dieser hautengen Jeans, die es nur in ausgewählten Läden und Online-Shops gab, außerdem einen super-weiten Pullover einer angesagten Marke aus Italien. Und natürlich eine Bauchtasche, in der sich sein Smartphone befand. Alles ziemlich unerreichbar für mich, auch wenn ich wusste, dass Dad durchaus in der Lage gewesen wäre, teure Klamotten zu kaufen. Aber er wollte nicht. Die meisten meiner (und seiner) Sachen waren gebraucht. Second Hand war einfach nachhaltiger. Das war Dad total wichtig. Und mir inzwischen auch. Tatsächlich hatte ich auch noch nie das Gefühl gehabt, dass mir etwas fehlte. Ich bekam eigentlich alles, was ich wollte. Nur eben meistens nicht neu. Das galt auch für das Smartphone, das ich nächstes Jahr zu Weihnachten bekommen würde. So wie der Rest meiner Freunde auch. Das hatten unsere Eltern so abgesprochen. Kurz: ich fand mein Leben total in Ordnung. Was nicht hieß, dass mich Matheos Lifestyle nicht trotzdem faszinierte.
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Alles (nicht) nur geträumt
General FictionNoah ist fast 10. Gut in der Schule, fleißig und eigentlich ziemlich beliebt. Er lebt mit seinem Dad in einem beschaulichen Reihenhäuschen. Ein Leben wie aus dem Bilderbuch. Aber Noah hat ein Problem. Er würde so gerne mal bei seinen Kumpels übernac...