•Motte•

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Eine bunt angezogene Werbetussi kommt mir entgegen.

„Sir, frohe Weihnachten. Bescheren Sie ihre Liebsten, indem Sie fleißig einkaufen und Freude bereiten. Wir hätten hier einmal anzubieten einen nagelneu"
Sie versucht mir enthusiastisch ein fremdartiges Objekt anzudrehen und ich richte nur stutzig meinen Hut.

„Kein Interesse oder sehe ich für Sie etwa wie eine Motte aus?" Ich deute auf die strahlenden Lichter des Einkaufszentrums und schiebe diese blauhaarige junge Frau auf die Seite.

„Unerhört." Stöhnt sie empört.

„Unerhört, dass sie meine kostbare Zeit rauben mit ihrem neuartigen Mist. Ich habe hier Seelen zu flicken und Sie, Sie"

Ich schaue sie eindringlich an und dabei stellt sich mir nur die eine Frage.
Wer in Gottes Namen trägt eine Sonnenbrille im Winter?
Dann noch eine im stechenden pink, kombiniert mit dieser Haarfarbe.
Was wird nur aus dieser Jugend? Ich kann mich nicht entsinnen, jemals so lachhaft ausgesehen zu haben.

„Ja? Sie haben ihren Satz nicht beendet." Fragt sie neugierig nach.

„Vergessen Sie es, ich habe keine Zeit meine Gedanken länger auszuführen. Rauben Sie anderen die Geldbeutel aus oder wie auch immer."

Ich stolziere weiter, bis ich an ein großes Gebäude komme. Gemäuert, umzäunt, gestützt auf hellem Naturstein.

Kleeblätter wuchern hoch empor bis zum Dach, bahnen sich ihren Weg durch die Balkonstäbe und verdecken die Fenster beinahe vollständig.

Nebelschwaden hängen in der trostlos kühlen Luft und ich blicke die wenigen Stufen hinauf, die zu der großen Eingangstüre führen.

Ich beschließe gerade hineinzulaufen, als plötzlich die braune, schwere Holztüre aufreißt und ein leicht bekleideter Junge herausgestürmt.

Verschwitzt, perplex und er scheint mich nicht mal zu bemerken. Geradewegs sprintet er auf mich zu, bedacht die Zauntür zu überwinden und nie mehr wiederzukehren.

„Bleib hier Winny!! Ich sagte bleib stehen!!" Hallt es durch das Gemäuer und ich ordne diese hohe Stimme meiner Angestellten Lucy zu.

Einstudiert, tue einen Schritt auf den blonden pubertierenden Jungen zu, umfasse bestimmend seine Schulter und er blickt mir ängstlich entgegen.

„Mr...Mr.. Will-iams." Er reißt die Augen auf, der Sabber hängt ihm am Mundwinkel, ähnlich aussehend wie Schaum.

„Winny. Habe ich nicht gesagt, du sollst nicht mehr Fluchtversuche unternehmen?" Ich blicke prüfend auf ihn herab.

„Sir...die Spritze, sie kommt, kommt wie Wellen, erschlägt mich. Sir, ertrinken will sie mich. Es ist kein Atem mehr übrig, die Luft, sie hört auf meine Lungen zu füllen. Ertrinken und ersticken, immer immer." Er schluchzt und krümmt sich in schmerzenden, immer wiederkehrenden Gedanken.

„Winny, die Spritze hilft dir, wie oft muss ich das denn noch wiederholen? Da ertrinkst du nicht."
Ich festige meinen Griff um seine Schulter.

„Aber Lucy, sie", er blickt um sich und zeigt mit dem Finger auf meine Angestellte, die mir erleichtert eine dankende Geste schenkt.

„Lucy ist nur für mich eingesprungen, weil du dich mal wieder nicht an die Bettzeiten gehalten hast und deine Medikamente verweigerst."

„Ich will nicht mehr ertrinken Sir. Nie wieder." Er umschlingt meinen Oberarm und manchmal fühlt es sich merkwürdig an, von jemandem gehalten zu werden. Merkwürdig, aber nicht abstoßend.

„Genau, keiner von uns will, dass du ertrinkst und darum nehmen wir ja brav unsere Medikamente."

Ich fahre ihm durch die blonden, struppigen Haare und führe ihn vorsichtig zurück ins Haus.

„Sie Sir? Sie nehmen auch Medikamente?" Fragt er mich stutzig.

„Ja, ich genauso wie du." Und ich lüge nicht einmal.

(Was sagt ihr zum Kapitel? Voten?)

SeelenflickerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt