Kapitel 8

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Kaily

Ich wusste nicht, wie oft ich den Brief von Derek las, aber ich tat es öfter als dass ich mich in meinen Kursen am Unterricht beteiligte. Es kam nicht selten vor, dass Solea mich von der Seite anstoßen musste, damit ich wieder aufpasste.
Am Freitag saß ich bei Professor Fredston im Kurs und zwang mich, den Blick oben zu halten, um kein Nachsitzen kassieren zu müssen. Bei ihm war ich nach all den Monaten noch immer unten durch.

Den Zettel zwischen den Fingern drehend wartete ich darauf, dass endlich Wochenende war. Obwohl wir am Sonntag noch in den Bergen beim Skifahren gewesen waren, brauchte ich unbedingt wieder ein paar freie Stunden. Die Albträume, die ich nach wie vor hatte, halfen auch nicht dabei, die Nacht durchzuschlafen. Oft wachte ich morgens auf und fühlte mich müder als am Abend zuvor.

"Ms Husk! Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass Sie in meinem Unterricht aufzupassen haben? Es mag anderen Ihrer Professoren ja egal sein, wie viel Sie aus den Kursen mitnehmen, aber in meinem Kurs gehe ich davon aus, dass alle, die hier drinsitzen auch etwas lernen möchten. Bei Ihnen stimmt das wohl nicht, kann das sein?" Professor Fredston baute sich vor mir auf. Mist. Ich hatte nicht gemerkt, dass ich aus dem Fenster gestarrt hatte.

"Es, äh, tut mir leid. Ich war nur einen Moment abgelenkt. Bitte fahren Sie fort mit Ihrem Unterricht", sagte ich schnell. Der Professor kniff die Augen zusammen. "Es, äh, tut Ihnen leid? Schön. Ich werde meinen Unterricht fortsetzen. Ohne Sie. Sie werden nun gehen und wenn Sie der Meinung sind, sich wieder auf meinen Kurs konzentrieren zu können, freue ich mich, Sie wieder zu sehen. Bis dahin bleiben Sie draußen und stören Ihre Kommilitonen nicht mehr."

Was?
Haha, er schmeißt dich raus.
Ja, aber ... Das kann er nicht machen!
Du siehst doch, wie er das machen kann.
Aber ...
Pack deine Sachen zusammen und geh, bitte Kaily, bevor das hier noch peinlicher wird.

Ich schnaubte wütend und stopfte meinen Block und die Stifte in meine Tasche. Den Zettel behielt ich in der Hand. Ich warf Solea noch einen Blick zu, ehe ich hinter dem Professor zur Tür lief. Er öffnete sie für mich und sobald ich auch nur gerade so herausgetreten war, schloss er sie hinter mir. "Scheiße!", entfuhr es mir.
Raven lachte in meinem Kopf, was mich nur noch wütender machte. Mit festen Schritten machte ich mich auf den Weg zum Ausgang.

Während ich zurück zum Haus von Solea und mir ging, schrieb ich ihr eine Nachricht, dass ich schon gegangen war. Danach fragte ich Gabrielle, meine Pflegemutter, wie es bei ihr lief und steckte mein Handy wieder weg.

In der Wohnung angekommen ließ ich meine Tasche in eine Ecke in meinem Zimmer sinken und ging in die Küche. Dort lehnte ich mich gegen die Anrichte und holte den Zettel aus meiner Hosentasche. Sachte fuhr ich mit dem Finger über die blauen Buchstaben. Wann waren sie aufgeschrieben worden? Es machte mich verrückt, dass ich nichts mehr über diesen Zettel wusste. Irgendwo in meinem Kopf musste es doch die Antwort auf diese Frage geben. Denn ich kannte Derek doch erst seit Oktober. Das waren vier Monate. Wie konnte ich so etwas innerhalb von vier Monaten vergessen? Von Oktober bis Januar war die Zeit nicht so lang.

Dein Handy klingelt, teilte Raven mir mit. Leg doch mal diesen blöden Zettel aus der Hand und triff dich mit Derek. Ich will zu ihm.
Morgen. Morgen gehe ich zu ihm, vergessen?
Nein. Aber das dauert noch so ewig.
Das geht schneller als du denkst.
Aber Forrest ...
Ich seufzte. Raven, hör endlich auf, von diesem Forrest zu reden. Das ist nicht gesund.
Warum? Jetzt klang sie beleidigt. Weil du denkst, dass es ihn nicht gibt? Es gibt ihn aber. Er ist Dereks innere Stimme. Und ich kann sie hören, das habe ich dir schon so oft gesagt.
Okay.
Okay?
Ja. Okay. Ich nickte nachdrücklich. Vielleicht gab es einfach Dinge auf der Welt, die ich nicht verstand. Und vielleicht war diese Verbindung von Raven und dieser Stimme von Derek eins davon.

Samstagabend gab Raven mir recht. Die Zeit war schnell vorbei gegangen. Im Kino war heute viel los gewesen, weshalb ich ohne Pause auf den Beinen war und der Nachmittag im Flug vergangen war.
Als ich bei Derek, Aarlon und Nic klingelte, freute ich mich auf den Abend. Und auf Derek. Er öffnete mir die Tür und keine zwei Sekunden später lag ich in seinen Armen. Fest drückte er mich an sich.
"Ich hab dich vermisst", raunte er mir ins Ohr und Gänsehaut breitete sich auf mir aus. "Ich dich auch."

"Meine Güte, seid ihr zwei schlimm! Dabei seid ihr noch nichtmal zusammen", stöhnte Jaden genervt, doch als ich mich von Derek löste und ihn ansah, merkte ich, dass er grinste.
Ich wandte mich wieder Derek zu, aber sein Blick war nach unten gerichtet. Ich folgte ihm und mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Er sah auf sein Armband mit dem Regentropfen und drehte ihn zwischen den Fingern.

Fest biss ich mir auf die Unterlippe, als Jaden rief: "Wie wäre es mit einer Runde Flaschendrehen für den Anfang? Es ist viel zu still hier. Lea, komm her, wir machen den Anfang."
Ich nutzte diese Ablenkung und entfernte mich mit schnellen Schritten von Derek. Neben Nic ließ ich mich auf den Boden sinken und schluckte den Schmerz herunter.

Sobald alle saßen, gab Jaden der Gasflasche auf dem Boden Schwung und drehte sie. Ihr Hals zeigte auf Aarlon. Ein fieses Grinsen stahl sich auf Jadens Gesicht. "Okay. Aarlon, welche Person in diesem Raum hast du am meisten belogen?"
Da ich ihm beinahe gegenüber saß, sah ich, wie Aarlons Blick nach oben zuckte. "Muss ich das sagen?", fragte er gequält. Jaden nickte wild. "Natürlich! Sonst macht das Ganze ja keinen Spaß! Wenn du es nicht tust, dann musst du den restlichen Abend in Dereks Kleiderschrank verbringen."

Aarlon hob die Augenbrauen. "Dein Ernst?"
"Mein voller Ernst. Also?"
Er seufzte. "Wen ich am meisten hier im Raum belogen habe?"
Jaden nickte.
"Mich selbst."

Nach dieser Antwort herrschte eine ganze Weile Schweigen, bis Aarlon die Flasche nahm und drehte.
Eine ganze Weile spielten wir weiter. Ich musste sagen, wie oft ich gekotzt hatte und ein Glas Orangensaft mit Ketchup trinken. Wir lachten so viel, dass ich mir irgendwann den Bauch halten musste, weil er so wehtat.

Nic, der eben einen Handstand gegen Jadens ausgestreckte Arme machen musste, drehte die Flasche erneut. Nach ein paar Umdrehungen blieb sie schließlich stehen. Und zeigte auf mich.
"Du wirst uns jetzt mit Derek zeigen, wie man einen Hochzeitstanz tanzt. Aber komplett falsch", sagte Nic und bewegte seinen Zeigefinger zwischen Derek und mir hin und her.

Ich seufzte und blieb noch kurz sitzen, während Derek bereits aufstand. Er sah mich an und dann streckte mir die Hand hin. "Bereit?", fragte er.
"Nein", antwortete ich und ließ mir von ihm hochhelfen. Mein Gesicht befand sich wenige Zentimeter vor seinem und mir wurde schwindelig. Nicht, wegen der Nähe zu ihm - obwohl die mit Sicherheut nicht ganz unschuldig war - sondern, weil Bilder vor meinem inneren Auge aufblitzten.

"Bereit?", fragte Derek und hielt mir seine Hand hin.
"Nein." Ich ließ mir von ihm hochhelfen. Mit wackeligen Knien folgte ich ihm bis zum Eingang der Eislaufbahn, wo er sich nicht lang aufhielt sondern direkt aufs Eis lief. Bei ihm sah es ganz einfach aus. Er glitt über dieses gefrorene Wasser ohne irgendwelche Schwierigkeiten und drehte nach fünf Metern einmal um, um zu mir zurückzufahren.
"Jetzt du."
"Ich kann nicht fahren", widersprach ich.
"Dann helfe ich dir", schlug Derek vor.

Falling like bloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt