Kapitel 2

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Derek

Gedankenverloren drehte ich den kleinen Anhänger zwischen meinen Fingern. Der gläserne Regentropfen fühlte sich mittlerweile so vertraut an, dass ich gar nicht mehr darüber nachdachte, wie oft ich ihn in der Hand hielt. Es kam mir vor als hätte ich ihn in den letzten drei Monaten kaum weggelegt.

"Derek? Hörst du mir zu?"
Ich schreckte zusammen und hob schuldbewusst den Kopf. "Ja, Dad. Ich ... Was hast du gerade gesagt?"
Dad seufzte. "Ich habe dich gefragt, wie lange man einen fremden Wolf auf dem eigenen Territorium dulden muss."
Ich musste nicht lange überlegen. "Drei Tage. Wenn er dann nicht weitergezogen ist, darf man ihn angreifen und vertreiben."
"Richtig." Nickend legte Dad ein Blatt Papier zur Seite.

Dann lehnte er sich auf die Ellenbogen und beugte sich auf dem Schreibtisch zu mir. "Was ist los?", wollte er wissen.
Ich schnaubte.
"Was ist?", hakte er nach.
"Du kapierst es einfach nicht, oder?", entfuhr es mir.
"Was soll ich kapieren?"
Meine Hand bildete eine Faust um den Regentropfen. "Du hast uns auseinandergerissen. Sie war ... ist meine Mate, meine Seelenverwandte! Und jetzt erwartest du, dass ich brav diesen bescheuerten Unterricht mitmache, der mir bei meinen Aufgaben als Alpha helfen soll, während mein Herz, mein ganzer Körper danach verlangt, Kaily suchen zu gehen? Es tut mir weh, verdammt!"

Hastig schluckte ich die Tränen herunter, die sich ihren Weg hoch bahnen wollten.
Dad seufzte resigniert. "Wir haben das schon so oft durchgekaut, Derek. Du weißt, wie ich dazu stehe."
Wütend stand ich auf. "Ja. Ich weiß, wie du dazu stehst, dass du ihre Erinnerungen verändert hast, dass du sie in eine fremde Stadt geschickt hast, einen Schulabschluss gefaket hast und sie mich hast vergessen lassen! Obwohl weder ich noch sie das wollten!"

Nun stand Dad ebenfalls auf. "Hey! Wenn die richtige Zeit gekommen ist und sie stark genug ist, wird sie sich wieder erinnern! Also hör auf, mir Vorwürfe dafür zu machen, dass ich mich um meinen Sohn sorge!"
"Hierbei geht es nicht um mich, verflucht! Es geht um Kaily und dass du ihr einen Teil ihres Lebens gestohlen hast! Ob sie ihn nun zurückbekommt oder nicht! Und sie ist stark! So unfassbar stark, dass sie es verdient hat, Luna dieses Rudels zu werden!"

Dad schüttelte den Kopf. "Ich diskutiere das jetzt nicht mit dir. Was geschehen ist, ist geschehen. Ich bin mir sicher, sie wird zurückkommen, wenn sie sich erinnert."
Ich schnaubte. "Ja, und wann soll das sein? Wenn ich sie so sehr vermisse, dass ich nachts nicht schlafen kann? Wenn ich jede Sekunde an sie denken muss? Wenn es sich anfühlt, als wäre mir ein Teil von mir entrissen worden? Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber das ist bereits so."
Er schwieg und sah mich mit gerunzelter Stirn an. Also fuhr ich fort. "Dad, es tut mir weh. Verstehst du das? Ich kann bald nicht mehr. Und dann hat es dir gar nichts gebracht, uns zu trennen und ihr die Erinnerungen an mich zu nehmen. Bitte, sag mir, wo sie ist. Ich brauche sie."

Aufmerksam betrachtete er lange mein Gesicht. Nahm jedes einzelne Detail wahr. Und dann schüttelte er leicht den Kopf.
Ich knurrte und zerquetschte den Regentropfen in meiner Hand fast.
Dad öffnete den Mund. "Du wirst ihr nichts über eure gemeinsame Vergangenheit erzählen. Auch nichts über ihre wahre Herkunft und ihre Eltern. Sie muss sich selbst erinnern. Das ist wichtig. Wenn du mir das versprichst, dann verrate ich dir, wo Kaily ist."

Ich schwieg.
Hallo?! Worauf wartest du? Sag Ja!
Um dann zwar bei ihr, aber nicht mit ihr zu sein?
Ja. Denn das ist besser als nichts. Und ich brauche Raven ebenso sehr wie du Kaily. Ihre Nähe.

Ich schloss kurz die Augen. Ich konnte nicht glauben, dass ich das jetzt tat.
"Ich verspreche es."

Kaily

Solange ich nichts zu tun hatte und gerade niemand Popcorn oder Nachos kaufen wollte, saß ich auf einem kleinen Hocker hinter der Theke und drehte die kleine Schneeflocke an meinem Armband hin und her. Ich wusste nicht, wie ich es bekommen hatte, aber ich wusste, dass es zu mir gehörte wie sonst nichts.

Im Verkaufsraum des Kinos, in dem ich arbeitete, war es still. Doch nicht mehr lange. In einer dreiviertel Stunde würde ein neuer Film starten und deshalb würden hier in ein paar Minuten wahrscheinlich die ersten Menschen reinkommen.

"Hast du eigentlich mal darüber nachgedacht, wie es wäre, mal wieder selbst ins Kino zu gehen?"
Ich wandte Jaden den Kopf zu. Er arbeitete seit drei Jahren hier und wir hatten uns ein wenig angefreundet. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich mit ihm gesprochen hatte, doch durch die Therapie ging es mir besser und ich lernte, Menschen näher an mich ran zu lassen.

"Mit wem denn?", fragte ich zurück.
Jeden zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung ... Vielleicht mit dem Typ, der da gerade zur Tür reinkommt. Der sieht doch gar nicht so schlecht aus, oder?"
Ich folgte seiner Kopfbewegung und sah einen jungen Mann mit roten Haaren, der auf Jaden zulief. Doch den Blick hatte er auf mich gerichtet.

Ich sah zurück zu Jaden. "Niemals. Der ist nicht mein Typ."
"Kaily, niemand, der in den letzten zwei Monaten hier vorbeigekommen ist, war dein Typ."
Ich runzelte die Stirn. "Das stimmt nicht ..."
Hallo?! Natürlich stimmt das. Du findest niemanden gut. Keine einzige Person, mischte sich Raven ein.
Auch Jaden hob die Augenbrauen. "Lüg dich nicht selbst an. Hey, was kann ich für dich tun?" Er wandte sich dem Typen zu und sie begannen über den Eintritt zu reden.

Es stimmte wirklich. Ich hatte keinen Typ. Kein einziger junger Mann, der mir in den letzten Wochen begegnet war, hatte meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen können. Und aus irgendeinem Grund wollte ich das auch gar nicht. Ich hatte das Gefühl, zu betrügen. Dabei war das Schwachsinn, ich hatte noch nie einen Freund gehabt.
Vielleicht trauerst du deiner Kindergartenliebe nach?
Die hatte ich nicht, Raven, das weißt du.
Woher soll ich das denn wissen? Ich bin erst seit ... seit wann bin ich eigentlich bei dir?
Seit so ungefähr acht Monaten. Seit ich herausgefunden habe, dass ich mich in einen Wolf verwandeln kann.
Stimmt, das war ...

"Ich hätte gerne eine große Tüte Popcorn." Die Stimme des rothaarigen Typen riss mich aus der Konversation mit Raven.
Sofort stellte ich mich aufrechter hin und setzte mein Kino-Lächeln auf. "Gerne. Süß oder salzig?"
"Ich mag es süß", raunte er leise und zwinkerte mir zu.
Ach du scheiße. Macho in freier Wildbahn. Kaily, renn!
Ich ließ mir nicht anmerken, wie unwohl mich seine Aussage fühlen ließ und bückte mich ein wenig, um hinter der Theke eine Tüte hervorzuholen.

"Weißt du, wenn du hier weg willst ... Ich kenne da einen Platz auf meinem Schoß."
Schweigend füllte ich die Papiertüte mit Popcorn. Solche Männer waren einfach Arschlöcher, am besten man ging gar nicht darauf ein, was sie sagten. Er würde mir hier auch nichts tun können, denn der Vorraum füllte sich nach und nach mit Menschen.

Wortlos überreichte ich dem Typ seine Tüte. Dabei streiften sich unsere Hände. Er packte meine Finger. "Ich bin mir sicher, dass du noch nie so richtig gut gev-"
"Ich bin mir sicher, dass du hier gleich rausfliegst, wenn du sie nicht augenblicklich loslässt", unterbrach ihn eine Stimme, die mir durch Mark und Bein ging. Der Typ gehorchte sogar und schnaubte kurz, ehe er sich vom Acker machte. Erleichtert atmete ich auf und sah zu dem jungen Mann, der mich gerettet hatte. Moosgrüne Augen blickten mir entgegen.

Falling like bloodWo Geschichten leben. Entdecke jetzt