9. Januar 2024

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Der Wecker riss mich aus einem unruhigen Schlaf. Ich schlug erschrocken die Augen auf, fühlte mich mehr tot als lebendig. Aber zum sortieren war in meinem Zeitplan morgens keine Zeit. Maximal 5 Minuten hatte ich Zeit um im Bad zu stehen. 6.05 zeigte die Uhr und wie in Trance putze ich meine Zähne. Ich zog irgendwoher meine warme jogginghose und zog noch eine Strumpfhose drunter. Mein Gehirn wurde langsam wach. Welcher Pulli? Ein möglichst weiter. Ich hatte Stress mit meinem Körper heute, obwohl die Waage nicht wirklich mehr anzeigte und das konnte durchaus auch noch Wasser der letzten Nacht sein. Mein Blick viel vom Chaos über den Boden hin zur Fensterbank auf die drei Glasflaschen. In einer war noch die Hälfte drin. In der koche stand eine fast leere Wassertasse. Also fast 3 Liter. Dennoch hatte ich Kopfschmerzen und einen ordentlichen Drogen Kater. Aber keine Zeit. Mein Zeitplan. Bei dem Gedanken musste ich kurz sarkastisch auflachen. Wen kümmerte noch der Zeitplan? Als hätte ich Kontrolle über mein Leben, als hätte ich Kontrolle über irgendetwas. Aber ja, der Zeitplan. Natürlich. Der würde es jetzt retten. Aber es nutze ja alles nichts, ich musste zumindest nach außen so wirken als hätte ich irgendetwas unter Kontrolle, ich musste zur Schule gehen. Besonders nach dem Gespräch gestern mit meinem Klassenlehrer. Ich schaute in den Spiegel und wusste das ich ungeschminkt nicht raus gehen konnte. Ich war leichenblass, hatte tiefe Augenringe und eingefallene Wangen. Man sah die letzte Nacht, den Stress den mein körper gehabt hatte, man sah die Mangelernährung. Und ganz kurz, für ein paar wenige Sekunden erschrak ich beim Anblick meines schmächtigen Körpers unter den viel zu weiten Klamotten. Selbst in diesen sah man das dieser nichts mehr zu bieten hatte. Und als hätte es einen kurzen Klick gegeben wurde mir klar wie herunter gewirtschaftet ich diesen Körper hatte. Und welch ein Wunder es war das er vor diesem Spiegel aufrecht stand und allem trotzte. Ich schüttelte den Kopf und die Illusion, oder Wahrheit, verschwand. Ich sah wieder die Gramm zu viel, sah ja gar nicht so furchtbar aus. Zum schminken hatte ich sowieso keine Kapazität. Ich stellte statt einer Wasserflasche zwei raus und füllte in meinem morgendlichen automatismus meine brotdose. Mit jedem Mal wo ich an die kcal dachte hatte ich danach die Stimme meines Klassenlehrers in meinem Kopf. Die Entscheidung die schwer auf meinem Herz lag, Essstörung oder Ausbildung? Ging wahrlich nicht beides? Nein. Denn nicht nur die Essstörung, im Zuge dessen, in dem verzweifelten Versuch von Kontrolle und Flucht tat ich noch so viel mehr als nur hungern. Ich würde nicht mehr lange fähig sein noch zur Schule zu gehen. Ich griff zu immer härteten Mitteln. Jetzt waren es „nur" ein paar happy Pillen, wann würden es Nadeln werden? Wenn ich wollte kam ich an alles dran und das machte mir Angst. Gras interessierte mich längst nicht weiter, Alkohol hatte mir doch zu viele kcal. Schneiden brachte nichts weiter als ein paar Narben und das hungern blieb nur bedingt erfolgreich, der Streit darum wurde immer größer. Ich erinnerte mich an das Gespräch mit meiner Betreuerin kurz vor meinem Konsum. Ich hatte sie fast angeschrien. Sollte sie mich doch in Ruhe lassen. Sollte diese komplette Welt mich doch in Ruhe lassen. Ich seufzte und legte die Hand gegen die Stirn. Keine Zeit für Kopfschmerzen. Weitermachen. Denk daran wer du bist. Wer ich war? Wer war ich noch? Ich blickte ein letztes Mal traurig in den Spiegel, in die Überreste meiner selbst. Mehr tot als lebendig. Ich räumte den Rest der herumlag weg, strich die Decke glatt und legte die Schnuller zurück in die Schublade auf die Drogen. Ich steckte meine Kopfhörer in die Ohren um überhaupt das Haus verlassen zu können, packte meine Sachen und verließ pünktlich um 6.30 das Haus. Shit, Heute war Haarwaschtag. Egal, dafür war abends noch Zeit. Ich hatte sie sowieso in einen Dutt gepackt und eine Mütze drüber gezogen. An meinen Haaren sah man als allererstes wie es mir ging und auch welche Substanzen in meinem Körper umher schwirrten, man musste nur wissen worauf man achten muss und ich wusste das ein paar wenige langsam dahinter kamen. Ich schlenderte durch den Schnee Richtung Zug, füllte meine Lungen mit Rauch und Nikotin. Kippen sind kein Frühstück! Sie glauben diese Geschichte ist wahr? Da muss ich sie leider enttäuschen, sie ist frei erfunden. Das erinnerte mich daran dass ich mal wieder xfactor schauen könnte. Zum wie vielten mal? Ich wusste es schon gar nicht mehr. Aber es gab fast nichts was ich über so langen Zeitraum immer noch schaute wie das. Mit immer gleichbleibender Begeisterung. Und bones natürlich. Ich hatte die Hausaufgaben nicht, aber die ersten beiden Stunden entfielen, also bleib noch Zeit sie abzuschreiben. Zum selber denken war es noch zu früh. Um halb neun sprang ich noch kurz in den Rewe, holte Brötchen und Käse. Ich wollte nicht, wollte nicht essen, wollte nicht zunehmen. Schule oder Essstörung? Ich kaufte das Brötchen und den Camembert den ich früher so gerne gegessen hatte.
Am Bahnhof traf ich einen guten Freund flüchtig auf dem Weg. „Warum hast du nichts gesagt, ich hab gutes Zeug zu verkaufen!" „Ich werde mich melden" versprach ich und schenkte ihm ein Lächeln. Nicht schon wieder. Nicht noch ein Kontakt für Drogen. Ich musste davon wegkommen, nicht mir immer besseres Zeug holen. Es war anfang des Monats, ich musste mit meinem Geld haushalten. Ich konnte nicht wieder wegen Drogen ins minus gehen. Ich setzte mich mit den anderen in den Bus, hörte Musik und hing meinen Gedanken nach.

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