Die Mitternachtsbibliothek

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Ingrid seufzte. Rieb ihre Handfläche mit dem Daumen. »Nach. dem Per gestorben war, habe ich es nicht mehr in Oslo ausgehal. ten. So viele Menschen, aber er war nicht mehr darunter, verstehst du? Da gab es dieses Café, in das wir immer gegangen sind, in der Nähe der Uni. Wir sind dort immer zusammengesessen, schweigend. Glücklich schweigend. Haben Zeitung gelesen, Kaffee getrunken. Nach seinen Tod war es schwer, solche Plätze zu meiden. Denn wir waren ja überall in der Stadt. Seine Seele suchte
mich in jeder Straße heim. Immer wieder habe ich der Erinnerung gesagt, ›verpiss dich‹, aber sie dachte gar nicht daran. Trauer ist etwas Schreckliches. Wenn ich noch länger geblieben wäre, hätte ich irgendwann die ganze Menschheit gehasst. Und deshalb war es meine Rettung, als in Spitzbergen eine Forschungsstelle frei wurde. Ich wollte irgendwo sein, wo er nie gewesen ist. Ich wollte irgendwo sein, wo mich sein Geist nicht mehr verfolgte.
Aber die Wahrheit ist, es funktioniert nur halb. Orte sind Orte, Erinnerungen sind Erinnerungen, und das Leben ist nun mal das
beschissene Leben.«

Zitate 3. Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt