Fremdschaft

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Nach einem kleinen Spaziergang zu Marys Elternhaus in der Oakland Avenue 87 hatten sich die erhitzten Gemüter bereits etwas abgekühlt. Auch ein wenig ins Plaudern waren sie geraten, obwohl die Situation ungünstiger dafür nicht hätte sein können. Doch ein wenig Ablenkung konnte Kate Nancy Evans, wie sie sich mittendrin vorgestellt hatte, gut und gerne gebrauchen. 

Die schon von ihrer neuen Bekannten abgestempelte Klatschtante Mary gab hingegen herzlich wenig von sich. Jedenfalls, wenn man ihr belangloses Gerede nicht beachtete. Denn auch wenn sie auf alles eine Antwort wusste und ihre Neugierigkeit nicht einmal versteckte, redete sie sich aus jeder Frage heraus. So wusste ihr Gegenüber jetzt gerade erst den Vornamen und nichts weiter. 

Als sie angekommen waren, zog Mary einen Schlüsselbund aus der Hosentasche ihrer schwarzen Jeans. Kurz verhedderten sich die vier Schlüssel kurz am dunkelgrauen Longshirt, das ihr hinten beinahe bis zu den Knien reichte, dann schnappte sie in Windeseile den größten von ihnen und drehte sich noch einmal nach hinten. "Wie wär's mit einem Tee? Ich sollte einen aufgesetzt haben vor einigen Stunden, aber bestimmt ist er noch warm. Teezeit ist zwar jetzt nicht mehr, aber besser als gar nichts zu tun ist es definitiv." 

Die noch immer in Tränen aufgelöste Kate nickte. Nachdem sie auf dem Weg hierher ihre gesamte Lebensgeschichte samt unfreundlicher Familie, schrecklicher Schulzeit, abscheulichem zu früh geheirateten Ehemann und natürlich einer zermürbenden Arbeit als Putzfrau in der Nachbarschaft zum Besten gegeben hatte, tat ihr der Hals höllisch weh. Und böse Absichten konnte ihre neue allerbeste Freundin wohl kaum haben, wenn sie ihr gerade das Leben gerettet hatte, oder? 

Mary steckte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn herum und die Tür schwang mit einem leisen Quietschen zurück. Das alte Haus wirkte von außen genau so wie all die anderen rundherum, denn es war so wie viele andere aus roten Backsteinen gebaut worden, mit einladenden weißen Fensterrahmen und glänzend weißen Spitzengardinen dahinter. Mit den hellbraunen Dachziegeln und der ebenfalls weißen Tür konnte es nicht Unauffälligeres geben. Doch die Inneneinrichtung konnte nicht annähernd mit diesem perfekten Schein mithalten. Der Flur war bis auf einen Kleiderhaken leer und mit grauen Tapeten bedeckt. Der graue Linoleumboden wirkte auch nicht viel fröhlicher. Nichts konnte Mary ferner liegen als diesen Ort einladend zu gestaltet und das fiel selbst im Dunkeln und trotz der Verzweiflung dem Gast auf. 

"Die Küche ist rechts, der Wasserkocher ebenfalls", rief die Eigentümerin Kate zu, die verschreckt durch den Flur lief. Als sie sich in die angegebene Richtung umdrehte, bot sich ihr auch kein besseres Bild. Alles war grau, weiß oder schwarz. Nichts daran zeigte die Leichtigkeit, die ihr bei Mary von Beginn an aufgefallen war. Im Gegenteil, in diesem Haus wurde ihr gleich wieder so schwer ums Herz wie zu dem Zeitpunkt, als sie mitten in der Nacht von zuhause fortgerannt war und in ihrer Verzweiflung zur Brücke unterwegs gewesen war. 

"Was ist? Die Gläser stehen da, daneben die Teebeutel. Und Wasser eingießen kann mit Sicherheit nicht so schwer sein." Mary erschien im Türrahmen. 

Stumm nickte Kate und goss etwas Wasser aus der Kanne in die Weingläser. Sie hängte die Beutel hinein und drehte sich wieder ihrer neuen Bekannten zu. "Du lebst wohl nicht sonderlich lange hier, oder?" Ihr Blicke schweifte durch den Raum mit einer Einbauschrankreihe in schwarz und einer farblich passenden Mikrowelle darauf, einem Esstisch in grau, ganz in der Ecke, wo nun der Wasserkocher, einige Weingläser, ein riesiger Stapel weißer Teller, einige Löffel und eine Packung Teebeutel lagen. 

"Weshalb? Nein, alles steht an seinem gewohnten Platz. Mehr ist auch nicht nötig, immerhin konnte ich schon eine rege Weile damit gut auskommen." Wie viele Jahre es tatsächlich schon waren, in denen sich kaum etwas in diesem Haus verändert hatte, hielt sie fürs Erste geheim. Und auch, dass es längst nicht überall in diesem Haus so leer und verlassen aussah, wenn auch nicht unbedingt fröhlicher. 

Kate nickte nur, um nicht etwas Falsches zu sagen. Nachdem selbst der letzte Ausweg gescheitert war, wusste sie nicht wohin, wenn sie hier nicht erst einmal bleiben konnte. Und selbst wenn ihr Mary von Minute zu Minute unheimlicher vorkam - dieser ersten Begegnung nach konnte sie doch kein schlechter Mensch sein, oder? 

"Ist fertig, richtig? Nach einem kleinen Tässchen Tee sieht die Welt ganz anders aus, selbst wenn es nur die billigste Sorte aus dem Supermarkt ist. Immerhin, etwas ist immer besser als nichts. Ich würde dir liebend gerne einen Stuhl anbieten, aber als ich das alles hier eingerichtet habe gab es nur die hässlichen bunten im Angebot und die wollte ich beim besten Willen nicht hier hinein stellen. Aber stehen geht schließlich auch, schließlich ist noch keiner von uns in Rente und wenn du schon in ganzer Ruhe auf diesem Holzzaun balancieren konntest, wirst du eine halbe Stunde lang Stehen definitiv aushalten können." Mary nahm eins der Gläser vom Esstisch, Kate tat es ihr gleich und kippte sich gleich den gesamten Inhalt in den Rachen, bevor sie das Glas wieder abstellte. 

"Ach, übrigens, wenn du magst kannst du auch hier bleiben für ein paar Tage. Falls du mich aushältst, dass ich schon so einige Leute in den Wahnsinn getrieben habe, zweifelt hier nach ein paar Stunden absolut niemand mehr an. Aber wenn du es schaffst, nicht die Nerven zu verlieren, steht ein ziemlich bequemer Liegesessel vorm Fenster im Wohnzimmer." 

Zögernd setzte sich Kate in Bewegung und schlenderte quer über den Flur zum gegenüberliegenden Raum. Trotz der ganzen Aufregungen des Tages war sie noch kein bisschen müde. Im Gegenteil, ihr Herz schlug so schnell, dass sie sich sicher war, kein Auge zu tun zu können. Als sie sich jedoch auf den schwarzen Sessel sinken ließ, dessen Rücklehne absank, wurden auch ihre Lider langsam schwerer. Kurz drehte sie sich noch zur Seite zu Mary, die schon auf dem Weg in ihr eigenes Zimmer war. "Sind wir eigentlich Freunde?" Was sie sich von dieser Frage erhoffte, wusste sie selbst nicht genau. Vielleicht sollte als Antwort ein Grund für Marys Hilfe reichen, vielleicht auch nur ein netter Zuspruch. Doch da hatte sie nicht mit ihrer neuen Bekannten gerechnet. 

Diese lachte schallend. "Freunde? Wie kommst du darauf? Als ob mich jemand als Freund ertragen würde. Nein, sobald du dich beruhigt hast und ausgeschlafen bist, wirst du schon erkennen, dass es definitiv etwas Besseres gibt, als mich zum Freund zu haben. Wir sind Fremde und bleiben es besser auch. Aber solange wir uns nicht gegenseitig wahnsinnig machen, könnte es durchaus eine gute Fremdschaft werden." 

Und so ließ Mary Kate mit tausenden Fragen und einer nicht gerade freundlichen Antwort zurück. Es hätte der Punkt sein können, deren die Wege der beiden später für immer trennen würde. Allerdings gab es noch jemand Neuen in Leicester, den niemand in diesem Haus erwartet hätte, und der alles noch einmal gehörig aufmischen würde. 


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