Mittagsspaziergang

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Hell leuchtete die Sonne über der Soar and diesem warmen Frühsommertag. Mary schlenderte lächelnd den Weg entlang, den Blick über die malerische Umgebung des Flusses schweifend. Im Moment schwirrten ihr viele Gedanken durch den Kopf, nur Rache nicht. Nein, Rache war längst nicht mehr das Gefühl, das ihr Herz Tag für Tag weiter schlagen ließ. Diese Zeit war endgültig vorbei. So wenig sie es erwartet hatte, hatte sich in den letzten Jahren ein vollkommen anderes Gefühl entwickelt, das sie schon verloren geglaubt hatte: Liebe. 

An Ihrer Seite lief Richard, der versuchte, mit seinen glänzenden Lackschuhen den vom letzten Regen noch nassen Grashalmen auszuweichen. Noch immer wusste er nicht alles, doch er fragte auch nicht. Für jemanden, der seine wenigen Geheimnisse selten an andere weitergab, war es eine Frage von Loyalität, nichts erfahren zu wollen. Solange er nicht auf einen Fall angesetzt war, gab es für ihn auch keinen. 

Gedankenverloren nahm sie den kleinen goldenen Schlüssel zwischen die Zähne, der an einer unauffälligen ehemals weißen Schnur um ihren Hals hing. Eine alte Angewohnheit, die sie längst nicht abgelegt hatte, wobei sie ihn noch annähernd jeden Abend zum Öffnen des Tagebuches nutzte. Die Hälfte der Seiten hatte sie schon vollgeschrieben, obwohl ihre Schrift relativ schmal war. Und falls die Familienlinie eines Tages weitergehen würde, so würde sie wohl noch einige Seiten freilassen müssen - doch da hatte das Schicksal zu entscheiden. 

"Seltsam, das alles hier endet, wo es begonnen hat", meinte sie mehr zu sich selbst als zu Richard, wobei der Schlüssel wieder aus ihren Mundwinkeln rutschte. Während sie hier spazieren gingen, wurde das Urteil von Mike Morris verkündet. Zusehen hatte sie nicht gewollt, denn sein Gesicht wollte sie nie wieder sehen. Die Strafe würde er auch so bekommen, ohne dass er die Chance hatte, ihr direkt ins Gesicht zu lachen. Der Kampf war nun vorbei. Es lag nicht in ihrer Hand, was mit ihm geschehen würde. 

"Hier? Du meinst unser Treffen hier, als ich mich hoffnungslos verirrt hatte?" Er erinnerte sich noch gut daran, als er von zwischen Fluss und See hin- und hergerannt war, in der Hoffnung, er würde einen Ausweg aus dem Schlammassel finden. 

"Richard, das war mehrere hundert Meter weit weg! Oder siehst du hier irgendwo einen See? Und außerdem, wenn du an dieser Stelle deinen Spaziergang hättest abbrechen wollen, wärst du zur Brücke gelaufen und hättest nach dem Weg gefragt. Du kennst dich immer noch nicht hier aus!" Wie jemand vergessen konnte, wo all die kleinen Feldwege am Rande von Leicester hinführten, konnte sie nicht verstehen. 

"Du kennst dich offenbar mit mir nicht so gut aus, denn ich hätte nie im Leben einen Fremden nach dem Weg gefragt!", kam prompt die Antwort, bevor er in Gelächter ausbrach. Wenigstens konnte er mit der Karte der Umgebung jetzt etwas anfangen, ohne zu glauben, dass hier alle Wege ins Nirgendwo führten. In Rochester hatte er sich nicht ein einziges Mal verirrt, trotz der ewigen Wiesen und auch des vielen Wassers dort. Es gab eigentlich kaum große Unterschiede zwischen seiner Heimatstadt und den etwas ländlicheren Gegenden in Leicester und der Umgebung, allerdings war das Gefühl, hier fremd zu sein, noch nicht vollständig verflogen. 

"Da hast du Recht, du wolltest schließlich nicht einmal mir sagen, weshalb du wie ein Irrer herumrennst." Sie grinste. 

"Irre? Durchaus nicht, ich hielt mich für halbwegs vernünftig, würde ich sagen. Allerdings muss ich zugeben, dass ich nicht jeder Situation gewachsen bin und dass dieser Ort mit ewig gleich aussehenden Wegen einen äußerst schnell auf einen Irrweg führt." Er legte einen Arm um ihre Taille und zog sie vorsichtig ein Stück zu sich hinüber. 

"Wenn du darauf beharrst, bringt eine Widerrede wohl nichts, auch wenn ich mit Sicherheit nicht deiner Meinung bin." Sie lachte laut. Es war seltsam, wie kindisch sie sich manchmal aufführte, wenn sie in Richards Nähe war. Es war fast, als würden die Jahre ihrer Jugendzeit, die sie durch all den Hass in ihrem Herzen verpasst hatte, wieder auferstehen. 

Ein neuer Lebensabschnitt hatte begonnen. Das erste Geheimnis, das Mary und Kate miteinander verband, würde wohl immer wie ein Schatten darüber liegen. Doch das als das zweite entstanden war, schien dieser Schatten in weite Ferne gerückt zu sein. Die Zukunft, die keiner der drei Fremden jemals so erwartet hätte, hatte längst begonnen. Was wohl geschehen würde? Das wusste niemand. 

Was du niemals wissen wirstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt