Dachgeschoss

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Kate Nancy lugte vorsichtig aus der Tür heraus. Seit ihre neue Bekannte die Polizei zu Besuch gehabt hatte, war sie geistig abwesend gewesen. Stundenlang hatte Mary aus dem Fenster gestarrt und das Haus gegenüber beobachtet, während sie auf keine einzige Frage eine Antwort gab. Kate verstand nichts mehr. Wer war diese Unbekannte? Weshalb benahm sie sich so seltsam? Und weshalb verriet sie nie etwas, das wirklich von Belang war? Doch all das Fragen brachte nichts, denn egal, was Mary ihr auch vorenthielt, sie hatte keinen anderen Ort zum Bleiben. 

Die Haustür knallte zu und nun war Kate allein im Haus. Vielleicht war es an der Zeit, ein paar der Geheimnisse zu lüften. Denn auch wenn sie sich selbst gerne als die typische Hausfrau sah, die ein Leben für die Familie führte, passte ihre unstillbare Neugier kaum in das stereotype Bild hinein. Stören tat sie sich nicht daran, denn solange sie niemand entdeckte, liebte sie es in fremden Angelegenheiten zu schnüffeln als Ausgleich zum langweiligen eigenen Leben. Und so fand sie sich keine fünf Minuten später auf der Treppe zum zweiten Stock wieder. Dass am Ende der Stufen eine Tür war, hielt sie auch nicht von ihrem Vorhaben ab - dass jemand mit Absicht dort eine Tür zugemacht haben könnte, tat es erst recht nicht. Für sie gab es nichts, das nicht zum Entdecken bestimmt war und Privatsphäre gab es da, wo sie war, auch keine. 

Sie drückte gegen die provisorisch eingehängte Tür, doch diese gab nicht nach. Hätte sie nicht schon einige Erfahrungen mit Verwandten gemacht, die sich in ihren Räumen eingeschlossen hatten, hätte sie sich jetzt umgedreht und wäre wieder zurück geschlichen. Aber so schaute sie erst einmal durchs Schlüsselloch - und der Schlüssel steckte! Kurz lauschte sie, ob nicht eventuell jemand da war. Aber es war vollkommen still und so ließ sie sich auf die Knie sinken. 

Vorsichtig zog sie ein Stück ihres Kleidersaumes unter den Knien hervor und schob es unter die Tür, die so schief hing, dass sie eigentlich auch ihren ganzen Arm durchschieben konnte. Sie zog sich eine der dutzenden Haarspangen aus dem einstigen Zopf und piekste durch das Schlüsselloch. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeiten, bis sich der Schlüssel endlich hinausbewegte und das kurze Klirren vom Stoff gedämpft wurde. Kate jubelte beinahe laut, so gespannt war sie darauf gewesen. Nichts konnte für sie interessanter sein, als eine verschlossene Tür zu öffnen. 

Sie riss ihren Kleidersaum unter der Tür hervor und hob den Schlüssel hoch. Das rostige Ding sah aus, als wäre es Ewigkeiten nicht benutzt worden - was eigentlich auch stimmte. Wie überhaupt jemand die Tür von innen verschließen konnte, war jedoch ein viel größeres Rätsel, das sich ebenfalls nicht so schnell lösen lassen würde. 

Gespannt stand sie auch, steckte den Schlüssel ein und drehte ihn zweimal herum, als die Tür sich schon knarrend öffnete. Bedächtig machte sie einen kleinen Schritt nach vorne und ließ den Schlüssel los. Was war wohl hier zu entdecken? Es kribbelte sie schon in den Fingern, die Tür endlich aufzustoßen und sich alles anzuschauen, doch sie genoss noch einen kurzen Moment der Vorfreude. Erst als die Spannung ins Unerträgliche stieg, trat sie tatsächlich ein. 

Währenddessen schlenderte Mary äußerlich entspannt die Straße entlang. Es war schon Nachmittag und weshalb sie so lange fortgeblieben war, wusste sie selbst nicht. Vielleicht waren die ewigen Fragen schuld, die sie nicht mehr hätte ertragen können. Vielleicht auch die Aufnahme der Ermittlungen gegen sie. Genauso könnten es aber auch die Tatsache sein, dass sie wieder in ihrem alten Zuhause war, das sich fremder nicht hätte anfühlen können. 

Als sie vor schon vor ihrem Haus stand, drehte sie sich um und winkte. Nur Sekunden später wurden die Gardinen im Erdgeschoss zugezogen. Inspector Kenneth war offenbar schon zuhause. Nur mit Mary reden wollte er eindeutig nicht. Die Tränen wegzwinkernd drehte sie sich in die andere Richtung - wenn er nichts mit ihr zu tun haben wollte, war es seine Sache. Sie hatte ihn nicht abgewiesen und trotz dutzender Fehler, die sie ihm unterstellte, war sie ihm immer noch dankbar. Doch um seine Freundschaft betteln würde sie nicht, wie sie niemals um etwas bat, denn noch immer konnte sie sich keine Schwäche eingestehen. In vielerlei Hinsicht war sie in den zehn Jahren erwachsen worden, doch nicht in emotionaler. 

Schulterzuckend lief sie zum Haus, öffnete die Tür und trat ein. Dass es tatsächlich still war, irritierte sie ein wenig. Hatte das Plappermaul eine Beschäftigung gefunden oder war es abgehauen? Anstatt zu raten, stieß sie die Tür hinter sich zu und sah sich um. Kate war nirgends zu finden, doch einfach wortlos zu verschwinden, traute sie ihrer neuen Bekannten nicht zu. Als sie etwas wie ein Wimmern von oben vernahm, machte sich ein unbehagliches Gefühl in ihr breit. Auch wenn es nicht mehr als eine Vorahnung war, musste sie sich an der Wand abstützen, um nicht umzufallen. Schemenhaft waren Fußabdrücke im Staub auf den Stufen zu erkennen. Konnte so etwas überhaupt geschehen? 

Mit wackeligen Beinen lief sie auf die Treppe zu und schloss die Augen. Zehn Jahre lang hatte sie keinen Fuß auf diese Stufen gesetzt. Noch gut konnte sie sich daran erinnern, als Paul die Tür einbauen ließ. Sie hatte stundenlang dagesessen und ins Leere gestarrt, bis er es nicht mehr ertragen hatte. Keinen Tag später hing auch schon die Tür und damit bloß niemand jemals hineinkam, hatte er die Arbeiter nach der erledigten Aufgabe aus dem Fenster klettern lassen, während der Schlüssel noch im Schloss steckte. Sie hätte ihm nie genug dafür danken können, denn auch wenn es dieses Dachgeschoss noch immer gab, so war es durch die verschlossene Tür über all die Jahre ein wenig in Vergessenheit geraten. Seit sie wieder hier war, hatte sie nicht ein einziges Mal dahin gehen wollen, obwohl sie noch jedes Detail von damals im Kopf hatte. 

Sie atmete tief ein und aus. Wenn Kate tatsächlich dort war, blieb ihr nichts anderes übrig, als an diesen Ort zurückzukehren. Angst durfte sie keine haben. Ein Lacey fürchtete sich niemals. Stufe für Stufe ging sie hinauf, immer wieder stehenblieben und noch immer mit geschlossenen Augen. Ein Lacey fürchtete sich niemals, aber in ihrem Inneren tat Mary es schon seit Jahren. 

Oben angekommen tastete sie nach der Tür und griff ins Leere. Ihr wurde klar, dass Kate diesen Flur tatsächlich entdeckt haben musste. Weshalb jemand versuchte, hinter eine verschlossene Tür zu kommen, würde sie niemals verstehen. Was sie nicht von alleine schlussfolgern konnte, wollte sie auch nicht erfahren, das war einer ihrer Leitlinien im Leben. 

Als sie endlich die Tür zu fassen bekam, zog sie sich daran in den Flur hinein. Ihre Beine waren kurz davor nachzugeben und wäre es nicht so wichtig, hätte sie sich längst fallen lassen. "Ich warne dich! Wenn du nicht sofort von hier verschwindest, kannst du gleich wieder auf deine verdammte Brücke klettern und ich werde am Straßenrand dir zujubeln, sobald die Sache erledigt ist!" Sie kreischte beinahe, so wütend war sie. Alles war jetzt besser, als in Tränen auszubrechen, deshalb gab sie jegliche Kontrolle über ihre Worte auf. Niemand auf dieser Welt hatte das Recht, diesen Flur zu betreten! Niemand auf dieser Welt hatte das Recht, ihr Geheimnis zu kennen! Niemand auf dieser Welt hatte das Recht, ihre Emotionen zu sehen! Lange nicht mehr hatte sie sich so ausgeliefert gefühlt wie jetzt. Wut, Angst und all die anderen schlechten Emotionen in ihr kochten hoch und explodierten - niemand sollte es wagen, sich in ihr Leben einzumischen. 

"Verschwinde, du verfluchtes Miststück oder ich schmeiße dich aus dem Fenster!", schrie sie und endlich reagierte Kate. Sie sprang auf und rannte an ihrer Gastgeberin vorbei, so schnell sie nur konnte. Was auch immer in diesem Haus los war - es war schlimmer als alles zuvor. 

Kaum dass die Haustür zuschlug öffnete Mary die Augen. Tränen liefen ihr über die bleichen Wangen und der Schwindel schien verschwunden zu sein. Es war ihr Zuhause - rechts war das ehemalige Gästezimmer, daneben das ihrer Eltern und am Ende des Flures das Bad. Auf der linken Seite dann das Arbeitszimmer und ein Stück weiter eine quietschrosa Tür - der Eingang zu ihrem eigenen kleinen Raum, den sie mit voller Freude an ihrem zehnten Geburtstag in Beschlag genommen hatte. Zwischen all diesen Zimmern, die so viele schöne Erinnerungen bargen, die sie längst in den Trümmern ihrer Vergangenheit verloren hatte, ein ehemals roter Fleck. Und jedes Mal, wenn Mary dorthin blickte, auch zwei Tote. 


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