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"Guten Tag, Sir", begrüßte der junge Sergeant seinen Vorgesetzten. Dieser war wie fast immer etwas zu spät und nickte dem Neuen auf der Police Station nur kurz zu. Ganz hatte sich der ältere Detective Inspector noch nicht an den Fremden gewöhnt, der erst vor zwei Tagen hier aufgetaucht war und schon jetzt neigte er dazu, den gewohnten Trott von allem und jedem hier zu verändern. Dass dieser nicht einmal von hier stammte, machte die ganze Situation für DI Paul Robert Kenneth nicht besser. 

Mit einem Seufzen machte sich der Dienstälteste hier auf den Weg zu seinem Schreibtisch. Die letzte Nacht war ein Albtraum gewesen, dass es gar nicht schlimmer hätte kommen können. Nachdem er endlich eine mehrtägige Überwachung für mehrere Häuser erwirken konnte, hätte eigentlich alles glattlaufen sollen. Er war sich sicher, dass sie einen der Einwohner dieser sechs Häuser töten würde - auf welche Art auch immer. Doch bis jetzt war sie nicht einmal in der Nähe einer dieser Häuser gewesen! Er hatte sich freiwillig zur Wache bereiterklärt, aber selbst das hatte ihm nicht den kleinsten Beweis geliefert. Entweder sie war tatsächlich schlauer als die Polizei - oder sie war keine Mörderin, so sicher er sich auch war. Es war wie verhext - erst der Tod von Leland Horsett und nun? Eine Nacht und bis zum folgenden Mittag, mehr würde er niemals bezahlt bekommen und dann würde sich der Fall fürs Erste erledigt haben. Allerdings war er davon überzeugt, es beweisen zu können. Nur wie? 

Der Fremde hier war jedoch mit ganz anderen Gedanken beschäftigt. Denn obwohl er selbstsicher eine Sache nach der anderen veränderte, wusste er nicht genau, was er in Leicester zu suchen hatte. Der in Rochester geborene und in London ausgebildete Polizist war gerade erst befördert worden und war selbst über die Versetzung so weit fort schockiert gewesen. Zwar hätte es durchaus schlimmer kommen können - in eine Kleinstadt zum Beispiel - dennoch gefiel es ihm hier nicht. Den wohl größten Teil trug sein neuer Vorgesetzter dazu bei, der bis jetzt keine zwanzig Sätze mit ihm gewechselt hatte. Was genau er hier zu tun hatte, wusste er ebenfalls nicht, ließ es sich aber nicht anmerken. Wenn er schon keine Fälle bekam und man ihm nicht einmal sagte, wo sein Arbeitsplatz war, dann mischte er sich einfach überall ein. Irgendwann würde man ihn so oder so hinauswerfen oder akzeptieren müssen. 

An seinem Schreibtisch hing, während der neue Sergeant wahllos Ordner umsortierte, Paul noch immer seinen Gedanken nach. Schon als er vor über vierzig Jahren in den Polizeidienst eingetreten war, hatte er versucht, jeden einzelnen Fall zu lösen und keinen Verbrecher unbestraft davonkommen zu lassen. Funktioniert hatte es leider nicht, obwohl ihm besonders dieser eine Fall, an dem er seit mehr als zwanzig Jahren arbeitete, zu schaffen machte. Und auch wenn er die Tatsache leugnete, lag ihm dieser Fall so am Herzen wie kein anderer. Besonders, seit Andy gestorben war. 

Energisch riss er sich von den Gedanken an den kleinen Jungen los, wie er ihn immer in Erinnerung behalten hatte. Andrew Harrison Kenneth war tot und daran konnte niemand etwas ändern. Aber dass Lennys Tochter sich so verändert hatte und dass aus der liebenswerten Kleinkriminellen eine eiskalte junge Frau geworden ist, die selbst vor Mord nicht zurückschreckte - das hätte er verhindern müssen. Gerade zwölf Jahre war es her, dass sie ihre Begeisterung für Kriminalfälle entdeckt hatte und das auf der Seite von Recht und Ordnung. Wäre nicht dieser abscheuliche Doppelmord gewesen, wäre sie wohl jetzt auch keine Mörderin. Aber auch sie hätte eine Wahl gehabt, so wie er nach dem Totschlag an Andy. 

Wieder an demselben Punkt angekommen wie bei fast allen seinen Überlegungen in diesem Fall schloss er verzweifelt die Augen. Wer war er überhaupt, dass er sie verurteilte? Konnte er das nicht selbst nachvollziehen? Mit Schrecken dachte er an den Moment zurück, an dem Lenny vor ihm stand mit Tränen in den Augen und keinen vernünftigen Satz zusammenstottern konnte. Bei jedem anderen hätte er laut losgelacht, wenn derjenige weinen würde, doch kein Lacey hatte bisher bei einer Kleinigkeit geweint. Und obwohl es einige Minuten dauerte, bis er verstand, wurde ihm von Beginn an so schwer ums Herz, als würde jemand ihn in einem Korsett zuschnüren. Bevor er noch einen klaren Gedanken hatte fassen können, war er schon losgestürmt, um sich ein Bild zu verschaffen. Nur kurz darauf stand er schon mit gezogener und entsicherter Waffe vor jemandem. Er hätte es getan, hätte ihn niemand davon abgehalten. Auch der allseits perfekte DI Paul Kenneth hätte ein Mörder werden können. 

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