▶ ℙ𝕣𝕠𝕝𝕠𝕘

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Ein verzweifelter Wunsch, der von Herzen kommt, wird immer erhört.

Ruth war sich nicht mehr sicher, in welcher Messe er es erwähnt hatte, aber sie erinnerte sich gut an die Worte von Vater Reyes. Sie wusste nicht einmal mehr den genauen Zusammenhang, aber diese eine Aussage ging ihr nicht mehr aus dem Kopf - seit Monaten. In gewisser Weise gaben ihr diese wenigen Worte Hoffnung. Nicht bloß Hoffnung auf ein anderes Leben, sondern Hoffnung auf ein besseres Leben.

Natürlich hatte sie von Anfang an gewusst, wie ihr Leben auf Godemere Haven aussehen würde. Ihre Mutter hatte die Gemeinde verlassen müssen, weil sie unverheiratet gewesen war, als sie sie empfangen hatte. Ruth kannte diese Frau also nicht; alles, was sie von ihr wusste, war, dass sie eine Sünderin war - und das machte auch sie für die Sünde anfällig. Deswegen hatte die Familie, die sie als Säugling aufgenommen und aufgezogen hatte, sie bereits mit 15 Jahren verheiratet, damit ihr nicht dasselbe Schicksal bevorstand wie ihrer Mutter.

Ihre Hochzeit mit dem 18 Jahre älteren Aaron Graham lag nun schon acht Jahre zurück. Acht sehr lange Jahre. Sie hatte sich bemüht, ihm eine gute Ehefrau zu sein, denn er war ein guter Mann; zumindest hatte Vater Reyes ihr das immer wieder versichert. Er tat viel für die Gemeinde, war ein Zimmermann geworden, genau wie sein Vater vor ihm. Die anderen Gemeindemitglieder mochten ihn, und Ruth war bewusst, dass sich daran absolut gar nichts geändert hätte, hätte sie ihnen offenbart, wie er sie in ihren eigenen vier Wänden behandelte.

Es war nicht von Bedeutung, dass er sie schlug, wenn sie ihre Hausarbeit nicht schnell genug erledigte. Wenn das Abendessen nicht pünktlich um sechs Uhr am Abend auf dem Tisch stand. Wenn ihm das neue Hemd, das sie ihm genäht hatte, nicht gefiel. Niemand interessierte es, dass er sie mit Gewalt nahm und sie ihren Schmerz in ihr Kissen schrie. Dass sie nicht "Nein" sagen durfte, ganz gleich in welcher Lage. Dass sie zwei ihrer drei Kinder seinetwegen verloren hatte, weil er nachgetreten hatte, als sie bereits am Boden gelegen hatte. Womöglich war es auch seine Schuld, dass sie das dritte Kind verloren hatte. Es war eindeutig seine Schuld, dass sie keine Kinder hatten. Dass man sie im Geheimen verachtete, weil sie zu unfähig war, ihm Kinder zu gebären. Ihm Söhne zu schenken.

Es war nicht von Bedeutung, weil es normal war. Ein Mann bestimmte über seine Frau. Er wusste, was gut für sie war, was schlecht für sie war. Es war seine Aufgabe, ihr Gehorsam beizubringen, wenn ihr Vater es nicht geschafft hatte, ihr die wilde Natur auszutreiben. Ruth hatte keinen Vater. Niemand hatte sich zu ihr bekannt. Vielleicht aus Furcht davor, die Gemeinde ebenso verlassen zu müssen wie ihre Mutter.

Manchmal fühlte es sich wie ein Verbrechen an, dass sie nicht bloß als Kind einer Sünderin, sondern auch als Frau geboren worden war. Wie wichtig konnte sie dem Herrn schon sein, wenn er nicht davon abließ, sie zu quälen? Hätte sie Vater Reyes gefragt, hätte er gesagt, dass Gott sie prüfe. Doch was konnte sie tun, um seine Prüfungen zu bestehen? Wie konnte sie ihm zeigen, dass sie seiner würdig war?

Ruth war es leid. Sie war es leid, dass sie sich jemandem beweisen musste; dass sie beweisen musste, dass sie gut genug war. Sie wollte sich nicht mehr beugen müssen. Nicht gegenüber dem Herrn, nicht gegenüber ihrem Mann. Diese Insel war kein Paradies - sie war ein Gefängnis. Ihr Gefängnis. Und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als aus ebendiesem auszubrechen.

Vielleicht - wenn sie nur fest genug daran glaubte - würde ihr Wunsch in Erfüllung gehen.

Auf einer InselWo Geschichten leben. Entdecke jetzt