Kapitel 2 - Salzige Tränen, schmerzende Träume und ein sehnlicher Wunsch

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Leonie

Zitternd zog ich ein weiteres Taschentuch aus der kleinen Pappbox, die auf dem runden Beistelltisch lag. Ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, wie ein einziger Mensch so viele Tränen vergießen konnte. Salzig wie das Meer, schmeckten die kullernden Tropfen, die sich an manchen Tagen stumm und an anderen laut schluchzend, auf meinen Lippen verteilten.

,,Ich denke, diese Träume sind eine Mischung aus Erinnerungen und der tiefen Sehnsucht, die in Ihnen schlummert. Sie sollten versuchen, sie als Geschenk zu sehen, Leonie, immerhin sind es stets friedliche Träume. Seien Sie dankbar dafür, solche Momente erlebt haben zu dürfen.''

,,Als ein Geschenk?'', wimmerte ich. ,,Wie soll ich das machen? Je schöner der Traum ist, desto mehr schmerzt mich die Realität, die jeden Morgen darauf folgt.'' Verzweifelt tupfte ich über meine geschwollenen Augen. ,,Glauben Sie mir, ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass ich mich eines Tages mit einem Lächeln in meinem Gesicht an meinen Mann zurückerinnere, aber wie soll das funktionieren, ohne dass es mir das Herz bricht? Allein der Gedanke, diesen Wunsch überhaupt zu hegen, macht mich ganz verrückt, verstehen Sie?''

,,Ja, das verstehe ich sehr gut. Sie haben Angst davor, ihn zu vergessen, sobald die Tränen eines Tages ausbleiben. Aber ich verspreche Ihnen, dass dies nicht der Fall sein wird. Sie werden an ihren Mann zurückdenken und glücklich sein, weil er ihr Leben auf so viele Arten bereichert hat.''

Ich schüttelte energisch den Kopf. ,,Nein. So wird das niemals sein.''

Meine Psychiaterin lächelte verständnisvoll. ,,Jetzt sind Sie dafür vielleicht noch nicht bereit, aber eines Tages werden Sie es sein. Und es wird sich richtig anfühlen.''

Schniefend starrte ich auf die große, silberne Uhr, die an der gelb gestrichenen Wand hing.

,,Wir haben noch zehn Minuten'', sagte Dr. Driller, deren Patientin ich seit einem Jahr war. ,,Wollen Sie mir in dieser verbleibenden Zeit vielleicht von Ihrem Sohn erzählen? Wie macht er sich in der Schule? Und zeichnet er immer noch so viel?''

Ich atmete tief ein und aus.

,,Levi ist ein schlauer Junge. Er lernt schnell, hat aber weiterhin Probleme Kontakte zu knüpfen und Freundschaften zu schließen.'' Und wieder musste ich mir die Augen tupfen. ,,Er zeichnet immer noch sehr viel, ich würde sogar behaupten, er zeichnet immer mehr. Seine Kunstlehrerin hat mich vor zwei Wochen angesprochen ... Sie sagte, dass in Levi unheimlich viel Potenzial stecke und dass wir diese besondere Gabe so früh wie möglich fördern müssten ... Sie gab mir eine Informationsbroschüre über einen Kunstkurs in der Universität, speziell für Grundschüler und beteuerte, dass solch ein Kurs nicht nur Levis Kreativität, sondern auch seine Kommunikationsfähigkeit fördern würde ... Also habe ich ihn angemeldet. Heute geht er das erste mal hin.''

Dr. Driller lächelte zuversichtlich. ,,Ich bin mir sicher, dass dies eine sehr gute Entscheidung war. Sie sind eine tolle Mutter, Leonie und eine bemerkenswert starke Frau.''

Ich spürte, wie ich rot wurde, obwohl ich selbst nicht daran glaubte.

,,Danke'', flüsterte ich und putzte mir die Nase. Wieder fiel mein Blick auf die vor sich hin tickende Praxis-Uhr. Ich sah sicherlich miserabel aus und wollte unbedingt nochmal nach Hause mich frisch machen, bevor ich Levi von der Schule abholen und mit ihm gemeinsam zum besagten Kunstkurs fahren würde.

,,Vielen Dank für Ihre Mühe'', murmelte ich also und erhob mich mit wackeligen Knien von dem weichen, olivgrünen Patientensessel. Kurz wurde mir schwarz vor den Augen, doch das passierte öfters, wenn ich so herzzerreißend weinte und anschließend auf die Beine kam.

,,Nichts zu danken. Bitte passen Sie auf sich auf und denken Sie stets daran, was für eine tapfere Persönlichkeit Sie sind.''

Ich nickte, war aber alles andere als überzeugt von diesen netten und doch völlig aus der Luft gegriffenen Worten.

- - -

,,Komm, ein Schritt schneller mein Schatz'', forderte ich Levi auf, der lustlos an meiner Hand hinter mir her trottete. Die Uni war groß und ich brauchte einen Moment, bis ich es schaffte, mich zu orientieren. Der Kunstkurs sollte im ersten Stockwerk im Raum 111 stattfinden und wir hatten eine Verspätung von fünf Minuten.

,,Ich will da aber gar nicht hin!'', maulte mein Sohn und betrachtete den langen, leeren Flur mit finsterer Miene, ja beinahe abwertend. Liebevoll sah ich ihn an.

,,Aber vielleicht wird es dir ja richtig gut gefallen, schließlich sind da ganz viele Kinder in deinem Alter, die genauso gerne zeichnen wie du.''

Levi blieb stehen.

,,Ich kann doch schon gut zeichnen! Warum muss ich dann in so einen blöden Kurs?!''

Ich seufzte erschöpft, versuchte aber positiv zu bleiben.

,,Na, weil du dort noch bestimmte Techniken und Tricks beigebracht bekommst und dich mit den anderen Schülern austauschen kannst.''

,,Das will ich aber nicht!'', rief er und stapfte wütend mit dem Fuß auf.

Doch ich ließ mich davon nicht beirren und strich ihm zärtlich eine seiner braunen Locken aus dem Gesicht.

,,Okay, ein Vorschlag: Du gehst da heute hin und wenn es dir wirklich gar nicht gefällt, dann musst du nicht an diesem Kurs teilnehmen.''

Levi sah nicht überzeugt aus, mit seinen zusammengezogenen Augenbrauen und den fest aufeinander gepressten Lippen, doch er nickte.

Ich lächelte erleichtert. ,,Gut, dann sind wir uns ja einig. Aber nun komm, da vorne müsste der richtige Raum sein.''

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