Kapitel 11 - Eine Sünde?

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Leonie

Zitternd bekreuzigte ich mich und begann zu sprechen:

,,Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Amen.''

Eine gedämpfte Stimme drang hinter der dünnen Holzwand des düsteren Beichtstuhls hervor.

,,Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit.''

,,Amen'', flüsterte ich und die erste Träne kullerte. ,,Ich kann mich nicht erinnern, wann meine letzte Beichte war ...'', gab ich zu.

,,Gott ist treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt, wenn wir sie ihm beichten.''

,,Ich ...'', begann ich also mit bebender Stimme, ''Mein Mann ... Er ist tot ... Seit fast eineinhalb Jahren und ich trauere um ihn und doch, denke ich immer mehr an einen anderen ...''

Ein lautes Schluchzen entwich meiner Kehle.

,,Ich weiß nicht, ob es eine Sünde ist, aber es fühlt sich wie eine an ... Dabei hat dieser Mann meine Zuneigung überhaupt nicht verdient! Er ist nicht gut! Nicht für mich und erst recht nicht für meinen Sohn! Er lügt und benutzt mein Kind, um ...''

Ich schluchzte noch lauter und kam mir plötzlich ganz albern und schäbig vor.

,,Doch dieses Bild, das er für mich zeichnete ... Immer wenn es nachts bei mir ist, habe ich keine Albträume ... Aber seit ein paar Tagen liegt es verborgen in einer Schublade und nun ... sind sie wieder da.''

Zitternd wischte ich mir über mein nasses Gesicht.

,,Träume von meinem Mann ... Blutüberströmt liegt er in seinem Wagen und ruft um Hilfe, bis das Fahrzeug plötzlich Feuer fängt. Dann wache ich auf.''

Ich schluckte.

,,Ich bin so schwach ... Ich wünsche mir, stärker als meine Trauer zu sein und meinen Mann mit liebevollen Erinnerungen in Ehren zu halten, doch stattdessen lasse ich mich von irgendeiner Zeichnung und einem charismatischen Lächeln um den Finger wickeln und gefährde durch meine Naivität, die ohnehin viel zu zerbrechliche Gefühlswelt meines Kindes.''

Stille - und ich schniefte einfach weiter.

- - -

Als ich etwas später die kleine Kirche am Stadtrand verließ, fühlte ich mich wirklich erleichtert. Es hatte gut getan, dem mir unbekannten und stillschweigendem Priester, mein Herz auszuschütten. Doch viel zu schnell brach die Nacht an und all die schrecklichen Emotionen kehrten wieder zurück, denn Levis lautes Wimmern, ließ mich verschreckt von meinem Roman aufblicken. Aufgescheucht hastete ich in sein Zimmer, wo er im Bett saß und das Gesicht in den Händen vergrub.

,,Levi ... Mein Schatz ...'', flüsterte ich, setzte mich vorsichtig zu ihm und zog ihn behutsam in meinen Arm. ,,Hattest du wieder einen Albtraum?''

Er nickte kaum merklich.

,,Erzähl ihn mir, dann geht es dir besser.''

,,Ich kann nicht'', murmelte er schwerfällig.

,,Warum nicht?'', fragte ich liebevoll und strich ihm zärtlich durch seine Locken.

Er wimmerte noch unkontrollierter.

,,Weil ... weil der Albtraum nicht nur von Papa war ...''

Bei diesen Worten drückte ich Levi noch fester an mich.

,,Ist schon okay'', flüsterte ich und wog ihn in meinen Armen.

,,Nein ist es nicht'', schluchzte er, ''Papa wäre bestimmt traurig oder böse auf mich!''

Abrupt hielt ich inne, runzelte die Stirn und befreite Levis Gesicht sanft von seinen zitternden Händen.

,,Was sagst du denn da, mein Schatz?! Warum sollte Papa das sein?''

,,Wegen ...'', seine Lippen zitterten, ''Wegen Diego.''

Ich machte große Augen, die Überraschung stand mir ins Gesicht geschrieben.

,,Sie haben sich geprügelt ...'', fügte er hinzu.

Bekümmert sah ich meinen Kleinen an, ich hatte es geahnt, ja eigentlich längst erkannt, und doch wollte ich es nicht wahrhaben ... Levi mochte Diego, ich befürchtete sogar sehr.

Eine unbändige Wut keimte in mir auf. Dieser egoistische, durchtriebene Kunststudent wusste gar nicht, was er meinem Sohn antat! Und das alles nur wegen einer widerlichen Wette! Das Beste war, ihn nicht mehr zu sehen. Ich musste Levi in einem anderen Zeichenkurs anmelden, damit er nicht mehr als Werkzeug für irgendwelche abscheulichen Ideen benutzt werden konnte!

,,Vielleicht ist es besser, wenn wir uns nach einem anderen Zeichenkurs umsehen, hm?'', flüsterte ich und sah traurig in Levis kugelrunde Augen.

,,Aber ... Das will ich nicht ... Diego versucht, mein Kumpel zu sein ... Er ist nett. Und dich mag er auch. Er findet dich sogar schön.''

Ich seufzte niedergeschlagen.

,,Aber er mag mich nur wegen dir'', log ich, um Levi nicht zu verletzen.

,,Nein! Das glaube ich nicht! Er hat gesagt, dass wir es verdient hätten glücklich zu sein.''

Mir klappte der Mund auf.

,,Das hat er zu dir gesagt?''

Levi nickte und rieb sich mit seinem Pyjama-Ärmel über die Augen.

,,Weißt du, irgendwie will ich sein Freund sein, aber irgendwie auch nicht ... Niemand ist so toll, wie Papa war!'' Seine Stimme bebte erneut vor lauter Kummer.

,,Ich weiß'', flüsterte ich verstehend und begann wieder ihn hin und her zu wiegen.

Eins war mir klar ... Diego war ein geborener Lügner und noch besserer Schauspieler. Ich hatte gehofft, Levis Gefühlswelt mithilfe des Zeichenkurses mehr Stabilität zu geben. Ich dachte, wenn er sich auf seine Begabung konzentrieren und sich in ihr üben würde, würde das einen Heilungsprozess in ihm auswirken, doch stattdessen hatte es seinen Gemütszustand wieder erheblich verschlechtert ...

Mein Entschluss stand fest. Nach der Kinderkunstausstellung musste ich Levi davon überzeugen, dass Diego nicht der richtige Umgang für ihn war, bevor sein Herz erneut in zwei gebrochen werden würde.

Oder eher gesagt, unsere Herzen.

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