Prolog

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„Papa, Papa!" Rayna stürmte wie ein Wirbelwind auf den Mann zu, der gerade das Zimmer der kleinen, aber gemütlichen Wohnung im Hope-Tower betrat. Überglücklich fiel das Mädchen mit den schwarzen Locken über ihren Vater her. „Ich habe dich so vermisst, Papa! Mama will uns nicht fernsehen lassen!" Schmollend ließ sie eine einstudierte Träne über ihre rosige Wange rollen.

„Weil ich gerade das Essen mache und ihr euch auch einmal allein beschäftigen könnt. Als ich in eurem Alter war...", rief die Mutter aus der Küche, doch Rayna hörte gar nicht mehr hin. Zu interessant waren auf einmal Papas neue Schnürsenkel. Als sie daran zog, lugte ein weiterer Kopf durch die Tür zum Wohnzimmer. Der Junge mit den klaren blauen Augen schaute neugierig, ob sein Vater ihnen etwas Süßes mitgebracht hatte.

Elim wurde nicht enttäuscht. Grinsend zog der Vater einen Traubenzuckerlolli aus der Tasche seines Umhangs und deutete den Kindern mit dem Zeigefinger über dem Mund, still zu sein und ihn nicht zu verraten. Seine Frau würde ihn sicher verteufeln, dass er ihnen so kurz vor dem Abendessen noch etwas Süßes gab.

„Papa, erzählst du uns noch eine Geschichte?", fragte Elim etwas schüchtern. „Nur bis zum Abendbrot", fügte er hinzu. Der Mann mit den langsam grau werdenden Haaren nickte und hob seine Tochter auf den Arm, um sie ins Wohnzimmer zu tragen, wo sie sich gemeinsam auf das Sofa setzten.

„Welche Geschichte möchtet ihr hören?", fragte er, obwohl er die Antwort bereits zu kennen glaubte.

„Die Geschichte, als wir noch nicht bei euch waren und die Guten die Bösen besiegt haben", platzte es aus Rayna heraus. Der Vater lächelte mild. „Ihr wisst aber, dass das eigentlich keine Geschichte für so kleine Mäuse wie euch ist", erwiderte er streng.

„Aber du hast sie uns schon einmal erzählt", warf Elim ein, und der Vater seufzte.

„Nun gut, ihr Quälgeister. Aber wenn es zu gruselig wird, höre ich auf, verstanden?" Die Kinder nickten eifrig und kuschelten sich an den starken Oberkörper ihres Vaters. Dann begann er zu erzählen.

 Dann begann er zu erzählen

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„Kriege. Naturkatastrophen. Politisches Ungleichgewicht. Hass. Macht. Gier. Das ist die Welt, in der ich aufgewachsen bin.

Dann, kurz nach der Mitte des 21. Jahrhunderts, erreichten wir gleich zwei kritische Kipppunkte des Klimawandels. Die Eiskappen begannen rasch zu schmelzen, was nicht nur den Meeresspiegel ansteigen ließ und weite Küstenregionen unbewohnbar machte. Der Temperaturanstieg im Nordatlantik verlangsamte den Golfstrom, der normalerweise warmes Wasser bis nach Europa transportierte, drastisch. Die Winter wurden länger. Die Temperaturen kälter. Die Heizperioden fraßen Gas- und Kohlereserven auf. Nachschub wurde knapp.

Ein Krieg um die letzten Energieressourcen entbrannte.

Während Europa in eisiger Panik versank, plagten Dürre und Hitzewellen den amerikanischen Kontinent. El Niño, üblicherweise ein Garant für Regen und feuchte Stürme im Norden, blieb mehrmals hintereinander aus, ließ Ernten verdorren und Wälder in Flammen aufgehen.

Auf allen Kontinenten flehten die Menschen plötzlich um Hilfe, doch die humanitäre Unterstützung blieb aufgrund der allgemeinen Notlage Mangelware. Menschen begannen, in weniger betroffene Gebiete zu fliehen. Während einige Länder sich abschotteten, wurden andere komplett entvölkert.

Als eine erneute Pandemie fast 80% der Bevölkerung in den überfüllten Städten zu vernichten drohte, beschlossen einige mächtige und superreiche Individuen den Bau einer autarken Stadt und deren komplette Abschottung von der Außenwelt. "New World" wurde in nur wenigen Jahren zum sichersten Ort der Welt.

Während die Erde im Chaos versank, suchte jeder, der es sich irgendwie leisten konnte, Zuflucht in dieser sicheren Enklave, die die Menschheit vor der Auslöschung bewahren sollte. Viele Familien kratzten ihre Ersparnisse zusammen und sammelten Spenden, um wenigstens ein paar der Kinder in die sichere Stadt zu bringen. Mit der Zeit entstand eine Gemeinschaft, die mit Hilfe modernster Technologie die knappen Ressourcen nutzte und die Stadt in den Himmel wachsen ließ.

Die Bevölkerungszahl stieg unaufhaltsam an, und bald war es nicht mehr jedem möglich, eine Wohnung über der Erde zu finanzieren. Die Armen, gerade viele der jungen Bewohner der Stadt, fanden Zuflucht im Untergrund, während die Eliten und Wohlhabenden die Gipfel der Wolkenkratzer erklommen. In einer ironischen Verkehrung wurde "New World" zu "Nightvale" umbenannt, wobei die Oberschicht spöttisch den Namen NEONS erhielt, eine Anspielung darauf, wie sie im blendenden Licht ihrer Luxuswelt lebten, während die Stadt von den Schatten der Weltbrände verdunkelt wurde.

Die Neonlichter der Reklametafeln, welche die Megakonzerne der NEONS bewarben, wurden zum ständigen Begleiter der unteren Schichten. Die Kluft zwischen den privilegierten NEONS und den SHADOWS der Unterschicht wurde immer unüberbrückbarer, und die Angst davor, selbst irgendwann zu den SHADOWS zu gehören, trieb die Menschen dazu, jeden erdenklichen Job anzunehmen, um sich wenigstens das kleine bisschen Leben zu erhalten, was ihnen geblieben war.

Eines Tages traf uns die Nachricht, die unsere neue Welt für immer veränderte: Die Menschheit außerhalb unserer Stadt war ausgelöscht! Die Aufklärungsdrohnen konnten keine Hinweise mehr auf menschliches Leben finden. Unsere Familien, unsere Freunde – alles, was uns einst Halt gab, war auf einmal fort. Und während die NEONS all ihre Liebsten in Sicherheit bringen konnten, waren wir auf einmal allein, verlassen von einer Welt, die sich gegen uns gewandt hatte. Die Welt, die wir einst kannten, war nicht mehr.

Sie war zu einem Ort des Verlusts und der Dunkelheit geworden, in dem wir, die wir am Rande der Gesellschaft lebten, nun in unserer Einsamkeit verharrten. In den Schatten der Wolkenkratzer, wo wir jeden Tag ums Überleben kämpften, fühlten wir die Leere der Verluste besonders tief.

Die Natur hatte sich mit zerstörerischer Gewalt ihres Parasiten entledigt. Die Erde würde sich erholen, vielleicht in einer Million Jahren, vielleicht in zehn. Und bis dahin waren wir, die Überlebenden, gefangen unter einer Kuppel, die ihren eigenen Kosmos mit ihren ganz eigenen Gesetzen schuf.

Und somit ging unsere alte Welt zugrunde, und eine neue, düstere Welt entstand."

Neonlight Shadows - AufbruchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt