Der Automat war kaputt. Ein großer Zettel mit der Aufschrift „Defekt" klebte auf dem Display. Also musste ich zum Tresen. Dort würde dann eine der Bibliothekarinnen den Job des Ausleihautomaten übernehmen. Ich musste dazu zwischen zwei Regalreihen hindurch. Dann nur noch nach rechts und dort war dann der moderne, lange Holztresen. Zwei Frauen arbeiteten dort. Die eine hatte ich zuvor noch nicht gesehen. Sie musste kurz vor der Rente stehen. Vielleicht war sie sogar schon Rentnerin. Sie hatte irgendwas Strenges an sich. Neben ihr bediente gerade eine junge Frau einen älteren Mann, der sich gut ein Dutzend Bücher auslieh. Die junge Frau kannte ich. Sie arbeitete schon gut drei Jahre hier. Laut ihrem Namensschild hieß sie Ms. Croft. Sie war mir sehr sympathisch. Ms. Croft war immer gut gelaunt und ihr Lächeln steckte an. Dagegen stand die alte Frau neben ihr in krassem Widerspruch. Aber vielleicht trog der Schein ja auch. Vielleicht steckte ja hinter der strengen Miene der Bibliothekarin auch die netteste Oma der Welt. Was ich aber durchaus anzweifelte. Zumal die netteste Oma der Welt immer noch meine eigene Oma war.
Ich stellte mich hinter den alten Mann. Dieser stellte Ms. Croft noch hunderte Fragen. Ms. Croft lächelte wie gewohnt und beantwortete seine Fragen. Wahrscheinlich brauchte der ältere Herr einfach mal jemanden zum Reden. Ich wusste, dass viele Menschen im Alter einsam waren. Das tat mir persönlich immer echt weh. Ich mochte mir das gar nicht vorstellen, völlig allein sein. Die Freunde vielleicht schon gestorben, die Verwandten eventuell weit weg. Deswegen gönnte ich dem Mann auch das kleine Gespräch das er mit Ms. Croft führte.
Ich warf einen Blick nach links, in den Gang.
Ein Mann um die fünfzig mit meliertem Haar, das sich oben bereits lichtete, kam langgeschlendert. Er wirkte etwas seltsam. Ich wusste erst auch nicht so richtig warum. Bis ich bemerkte wie weit seine Augen offen waren. Als gelte es einen Wettbewerb im Starren zu gewinnen. Blinzelte er überhaupt mal?
Trotzdem machte er keinen unheimlichen Eindruck. Er wirkte ganz nett. Sein Gesicht war von kleinen Augen- und Lachfalten gezeichnet. Sowas deutete meist auf nette Menschen hin, denn die lachen viel. Zumindest die meisten die ich kannte.
Er war jetzt fast auf Höhe des Tresens. Bisher hatte er seinen Blick stur gerade aus geworfen oder aber ab und zu mal nach rechts. Ich blickte ihn an. Er schien mich gar nicht richtig wahrzunehmen. Er schien wie in Gedanken versunken. Stimmte etwas nicht mit ihm?
Als er nur zwei Meter von mir entfernt war, wandte er seinen Blick tatsächlich mal nach links. Er schaute auf den Tresen und auf die ältere Bibliothekarin die hinter diesem stand und irgendwas in den PC eintippte. Sie war dabei konzentriert. In ihrer kleinen, strengen Lesebrille spiegelte sich das Licht des Monitors. Jetzt sah ich auch, dass die Bibliothekarin so ein hässliches Blumenkleid trug. Auf Höhe der linken Brust prangte das Namensschild, auf die Distanz konnte ich den Namen aber nicht entziffern.
Ich blickte jetzt wieder zu dem Mann. Dieser war wie versteinert stehen geblieben. Den Blick dabei starr auf die alte Dame gerichtet. Es schien, als sei ein Ruck durch seinen Körper gegangen. Sein Ausdruck veränderte sich. Ich konnte aber beim besten Willen nicht sagen, wie ich den deuten sollte.
Auf jeden Fall weiteten sich seine Augen noch mehr. Ich hätte dies für gar nicht möglich gehalten, doch wurde eines besseren belehrt.
Dann entrang sich der Kehle des Mannes ein Keuchen. Dies hatten wohl auch die Bibliothekarinnen und der ältere Herr vor mir mitbekommen. Alle drei, und ich, schauten auf den entsetzt wirkenden Mann. Ja, Entsetzen war es, was seine Züge zum Ausdruck brachten. Wieder dieses Keuchen. Und dann löste sich seine Starre. Seine Knie schienen aus Pudding zu sein, jedenfalls knickte er plötzlich ein. Als hätte ihn jemand in die Kniekehlen getreten. Und dann kippte er wie ein nasser Sack nach hinten. Den Blick hielt er dabei starr auf die ältere Bibliothekarin gerichtet. Dabei schüttelte er jetzt wild den Kopf. Ich blickte die Dame an. Sie schaute den Mann ohne dass sich bei ihr eine Reaktion zeigte. Sie guckte, als ginge sie der Mann nichts an. Ganz anders war da Ms. Croft. Die lief um den Tresen herum um dem Mann zu helfen.
Dieser keuchte nur weiter. Es sah aus als wenn er etwas sagen wollte, doch kein Wort drang aus seinem Mund. Ms. Croft war sichtlich besorgt und kniete sich neben den Fremden.
„Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Brauchen Sie Hilfe?", fragte sie.
Der Mann reagierte gar nicht. Er schüttelte nur weiter den Kopf. Die eine Hand hatte er auf die Brust gelegt, als wolle er seinen Herzschlag prüfen. Die andere Hand wies nahezu anklagend auf die alte Bibliothekarin.
„Sie...", brachte der Mann endlich hervor. Er schnappte dabei nach Luft. Ich sah auch, dass seine Hand anfing zu zittern. Ich kam mir hier gerade so unnütz vor. Was sollte ich machen? Ihm helfen? Doch Ms. Croft war ja bereits da.
„Sie...sie ist...es", stammelte er mit einer zittrigen Stimme.
„Sie...ist es. Böse...nicht gut..." Seine Aussagen hörten sich etwas wirr an. Meinte er mit seinen Worten die Bibliothekarin? Davon ging ich aus, schließlich zeigte sein zitternder Finger weiter auf sie.
„Was meinen Sie?", fragte Ms. Croft. Sie legte eine Hand auf seine Schulter.
„Sie ist böse...damals...nicht gut. Ich...kenne...sie", sagte er.
Ms. Croft warf jetzt einen Blick auf die alte Bibliothekarin. Diese schob ihre Brille etwas hoch und blickte den Mann seltsam an.
„Ich kenne ihn nicht", sagte sie in einem bissigen Ton. „Woher auch? Ich wohne hier erst ein paar Wochen."
„Sie...damals...böse Augen...", stammelte der Mann nur weiter.
„Wollen Sie vielleicht erstmal etwas trinken?", fragte Ms. Croft einfühlsam.
„Nein!", brüllte er plötzlich. „Sie ist böse! BÖSE!!!" Aus Leibeskräften hatte er das gebrüllt. Jetzt kamen noch einige Leute dazu und stellten sich rund um das Geschehen. Bestimmt hatte jeder hier den Schrei des Mannes gehört.
„Ich ruf ihm mal lieber einen Psychiater", meinte die alte Dame gefühllos und griff nach einem Handy.
Der arme Mann hockte dort weiter auf dem Boden. Erst jetzt sah ich, dass Tränen seine Wange hinunterliefen. Was war mit ihm los? Hatte er eine psychische Störung?
„Nein", flüsterte er mehrmals. Dann begann er wieder zu brüllen: „Sie ist böse! Sie bringt den Tod! DEN TOD!!!"
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Die Bibliothekarin
Mystery / ThrillerDie neue Bibliothekarin scheint ein dunkles Geheimnis zu umgeben. Ein Mann kriegt einen panische Anfall als er sie sieht. Er ist der Meinung sie zu kennen. Nicht nur das, er scheint sich vor ihr zu fürchten. Dylan, Schülerreporter und Zeuge dieses A...