Meine Nachttischlampe spendete ein warmes Licht. Wie eine kleine Insel in meinem ansonsten dunklen Zimmer. Es war bereits später Abend. Eigentlich müsste ich bereits schlafen, um am nächsten Morgen nicht todmüde in der Schule zu hocken. Aber ich konnte nicht schlafen. Ich spürte zwar eine Müdigkeit in den Knochen und auch meine Augen sehnten sich nach einer guten Portion Schlaf. Aber irgendwie war da doch eine gewisse Energie in mir, die mich vom Schlafen abhielt.
Ich hatte eine ganze Weile versucht zu schalfen. Bestimmt tausendmal hatte ich mich herumgewälzt und das Kissen mehrere Male gedreht, um auf der kalten Seite zu liegen. Aber zur Ruhe kam ich einfach nicht. Deshalb hatte ich die blaue Lampe angeschaltet. Zu viele Gedanken schossen durch meinen Kopf. Sie flossen so schnell vor meinem geistigen Auge, dass ich kaum die Möglichkeit hatte einen zu fassen. Da war der Gedanke an das, was in der Bibliothek vorgefallen war. Da war der verwirrte Mann, der eine riesige Angst an den Tag gelegt hatte. Angst vor der grauhaarigen Bibliothekarin. Warum hatte dieser Mann solch eine Furcht gehabt? Was hatte ihn so aus der Fassung gebracht?
Ich kratzte mich an der Schläfe. Soeben fuhr ein Auto an unserem Haus vorbei, das war deutlich zu hören, denn ich hatte das Fenster auf. Es war einfach so stickig hier drin. Und auch die Nachtluft brachte kaum eine Kühlung. Vielleicht war das ein weiterer Grund für meine Unfähigkeit zu schlafen.
Diese Bibliothekarin war mir genauso ein Rätsel wie der Mann. Sie hatte kaum Empathie gezeigt für ihn. Ein normaler Mensch hätte doch zumindest bestürzt reagiert. Vor allem wenn ein Fremder ihretwegen zusammenbricht. Aber sie hatte keine solche Reaktion gezeigt. Als ginge sie das alles nichts an, hatte sie auf dem PC weitergetippt. Und warum hatte der Psychologe alle aufgefordert die Bibliothek zu verlassen, aber war damit einverstanden gewesen, dass die alte Frau blieb? Sie war doch der Trigger gewesen.
Ich zermaterte mir das Hirn, ohne zu einer brauchbaren Lösung zu gelangen. War der Mann psychisch krank? Mit Sicherheit. War die Bibliothekarin mysteriös? Auf jeden Fall.
Und dann war da noch dieser Zettel gewesen. Das kleine Stück Papier, das Mr Hersh hatte fallen lassen. Zusammen mit seinem Bibliotheksausweis. Warum hatte er das getan? An einen Zufall glaubte ich nicht. Dazu las ich zu viele Krimis. Da musste doch mehr dahinter stecken. Es konnte gar nicht anders sein.
Ich nahm den kleinen Zettel vom Nachttisch. Ich hatte ihn einmal in der Mitte gefaltet. Insgesamt war der Zettel schon ziemlich zerknittert. Mit einer Hand faltete ich das Stück Papier auf. Da stand es. Deutlich und in Großbuchstaben stand dort „Hilfe“. Wieder und wieder ließ ich meine Augen über dieses eine Wort gleiten. Es war handschriftlich auf das Papier gebracht worden. Der Schreiber, vermutlich Mr Hersh, hatte entweder eine Sauklaue oder war sehr in Eile gewesen, als er das geschrieben hatte. Ich persönlich tippte auf Letzteres.
So etwas schrieb man nicht grundlos. Obwohl mir in diesem Moment wieder der Gedanke kam, dass Mr Hersh ja anscheinend eine psychische Beeinträchtigung hatte. Seine Verfassung war nicht die beste gewesen. Aber reichte das, um damit diesen kleinen Zettel zu erklären? Ich war mir da nicht sicher. Überhaupt hatte ich nur wenig Ahnung über psychische Leiden, obwohl dies durchaus ein spannender Bereich war. Aber ich interessierte mich sowieso für jeglichen Scheiß. Ob es nun Geschichte, Filme oder die Wasserversorgungsprognose für Westküste waren.
Und an dieser Sache hier hatte ich wirklich Interesse entwickelt. Das Blut das ich geleckt hatte fieberte geradezu durch meinen Körper. Für den nächsten Tag nahm ich mir jedenfalls Recherche vor. Ich musste mehr erfahren. Über die mögliche Diagnose von Mr Hersh, über die Bibliothekarin, über den Psychologen und darüber, was dieser Hilferuf zu bedeuten hatte. Für morgen wäre so oder so wieder Schülerzeitung eingeplant, von daher passte es sehr gut. Ich würde die Zeit im Büro nutzen, um mich über all das schlau zu machen. Um Licht in diese Dunkelheit zu bringen. Und mit dem festen Entschluss morgen nach den Antworten auf all meine Fragen zu suchen, schlief ich dann doch endlich ein.
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Die Bibliothekarin
Mystery / ThrillerDie neue Bibliothekarin scheint ein dunkles Geheimnis zu umgeben. Ein Mann kriegt einen panische Anfall als er sie sieht. Er ist der Meinung sie zu kennen. Nicht nur das, er scheint sich vor ihr zu fürchten. Dylan, Schülerreporter und Zeuge dieses A...