Schritt 6: hinter den Spiegeln

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Achtzehn Uhr dreißig stehe ich am Erfurter Hauptbahnhof. Annabelles Zug hat fünf Minuten Verspätung - was mir nichts ausmacht, da mein Anschlusszug wiederum fünfundvierzig Minuten später kommen wird. Wenigstens etwas, worauf immer Verlass ist.

Auf der Stelle wippend, stehe ich auf der letzten Treppenstufe und schaue dem einfahrenden Zug hinterher. Mein kleines Versteck ist perfekt. Von hier überblicke ich den gesamten Bahnsteig, während ich zwischen Säule und Treppengeländer kaum gesehen werde (mal abgesehen von den fragenden Blicken derjenigen, die mir auf der Rolltreppe hinterhersehen). Solange mich Annabelles Clique nicht erwischt, können die anderen mich ruhig für einen Verbrecher halten (oder wie auch immer ich die Blicke zu deuten habe). Mein Outfit ist bewusst gewählt. Weiter Hoodie, die Kapuze habe ich über den Kopf gezogen, denn es ist auf dem Gleis verdammt kalt und die Jeans ist nicht zu hell, als dass der Fleck an der Hüfte groß auffallen würde. Dazu weiße Turnschuhe und ein langweiliger Rucksack. Ich bin wie jedermann, und doch gehöre ich zu der Sorte, der man höchstens zu lange hinterher sieht, weil man glaubt, sie hätte einem die Handtasche geklaut.

Langsam kommt der Zug zum Stehen. Je weiter er das Tempo drosselt, desto heftiger scheine ich kollabieren zu wollen. Das Blut rauscht mir in die Ohren und ich weiß nicht, ob ich sofort in den Zug springen oder doch lieber gleich davor laufen soll.

Jetzt ist es also soweit. Mit dem Öffnen der Waggontüren blicke ich meinem Schicksal entgegen. Zumindest glaube ich ganz fest daran - sonst weiß ich wirklich nicht mehr, warum ich das eigentlich mache. Ich beginne zu schwitzen. Na toll. Bis Annabelle auftaucht, ist mein Hoodie vollgeschwitzt, vielleicht sogar mein frisch gewaschenes Haar. Ich habe extra auf Duftspülungen und co. verzichtet, alles meinem Doppelgänger zuliebe, der paranoider ist als unser Schülerdetektiv - auch bekannt als der Hausmeister.

Die ersten Fahrgäste steigen aus dem Zug, ich stecke die Hände in die Hosentasche, fühle mein Handy, das Ticket in der Hülle und atme tief durch.

Zwei Wochen.

Dann sehe ich sie. Aus einem der mittleren Waggons kommt sie die Stufen herunter gesprungen. Ich starre ihr wörtlich hinterher und sie fängt meinen Blick ein. Bin ich wirklich bereit? Das hier fühlt sich nicht mehr nach einem Spiel unter Teenagern an. Wir sind zwei Erwachsene, voll geschäftsfähig und können für alles zur Verantwortung gezogen werden.
Ihre Augen sind geweitet, die Lippen fest zusammengepresst. Oh Gott, sie denkt dasselbe. Gleich steigt sie zurück in ihren Zug und wir haken das alles als Scherz unter Gleichgesinnten ab. Womöglich die beste Lösung. Vielleicht möchte sie schreien, denn - verflucht nochmal!, das möchte ich. Ein letzter Blick über die Schultern, dann sprintet sie auf mich zu und ich bin mir sicher, wir stürzen die Treppe hinunter, vermasseln die Aktion, bevor sie überhaupt begonnen hat. Aber Annabelle bleibt rechtzeitig stehen. Ein zweiter Blick über die Schulter, sie seufzt dem ausfahrenden Zug hinterher und sieht wieder zu mir.

Wir sehen uns einfach nur an. Wie zwei Fremde, die meinen, sich ein halbes Leben lang zu kennen. Und ist es denn nicht so? Nein, ganz und gar nicht. Aber…da ist dieses Gefühl des Erkennens und es liegt nicht nur an der hundertprozentigen Ähnlichkeit.

"Hi", stoße ich aus, als will ich ihr ins Gesicht spucken.
Sie nickt mir zu, ebenso durcheinander wie ich, was ich durchaus beruhigend finde.
"Wir haben nicht viel Zeit", sagt sie und deutet nach unten. Ihre Stimme - nein, meine Stimme!, jagt mir einen Schauer über den Rücken.
"Die Toiletten sind da", ich zeige in die Richtung und wir setzen uns in Bewegung. Mein Fluchtinstinkt ist geweckt. Ich weiß nicht, ob es an der Person neben mir liegt oder ob ich meinen Verstand irgendwo geparkt habe und nun vollkommen abdrehe.

Du wolltest es.

Wirklich? Ich glaube, ich fahre gerade auf Autopilot.

Der Weg zu den Toiletten kommt mir sinnlos lang vor. Ich fühle mich beobachtet, obwohl die Leute uns für das halten werden, was eigentlich so offensichtlich und doch völlig am Thema vorbei ist. Meinem Doppelgänger scheint es nicht anders zu gehen. Ihr zerknirschter Gesichtsausdruck spiegelt meine Gedanken wider, es würde mich nicht einmal wundern, wenn ich dieselbe hilflose Miene aufgesetzt habe.
"Wenn du es dir anders überlegt hast", sage ich, doch Annabelle lässt mich nicht zu Ende reden.
"Nein", stößt sie gepresst hervor. Sie greift als erste nach der Klinke, sie sieht mir in die Augen, kurz und unsicher. Schnell sieht sie wieder weg und reißt die Tür zu den Toiletten auf, kramt ein fünfzig Cent Stück aus ihrer schwarzen Stoffhose und öffnet uns den Weg zu den Räumlichkeiten.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 26 ⏰

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