Kapitel 1 | Einen im Sinn

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„Einen im Sinn"

Mittwoch, 7. April 1976

Ein lautes Gähnen verlässt meinen Mund und ich schiele auf die altmodische Silberuhr an meinem Handgelenk, die mein Vater immer getragen hat. Es ist ein nebliger Mittwochabend. Der londoner Himmel ist von einer dunkelgrauen Wolkendecke überzogen und in der feuchten Abendluft schwingt der Geruch nach Regen mit. Bald wird die Dunkelheit kommen und den Unterschied zwischen Himmel und Wolken unkenntlich machen.

Ein kalter Windzug lässt mich frösteln und ich ziehe den Kragen meiner Jacke bis zur Nasenspitze hoch. Mir ist kalt. Seit acht Minuten stehe ich an ein und derselben Stelle und zolle den Toten meinen Respekt. So haben es mir meine Eltern beigebracht und so führe ich es fort, auch ein Jahr nachdem die Beiden mich allein gelassen haben. Noch zwei Minuten.

Mein Blick wandert vom Himmel zurück zum klobigen grauen Stein, der vor mir in der Erde steht und die Namen meiner Eltern präsentiert. Er hat beinahe die Farbe der Wolken, ist aber einen Hauch heller. Ekelhaft, würde meine Mutter jetzt wohl sagen. Sie wollte immer einen schneeweißen Grabstein, am besten aus Marmor, obwohl mein Vater ihr immer gesagt hat, dass man über so etwas nicht leichtfertig reden sollte. Jetzt liegen sie beide unter dem gleichen grauen Brocken begraben.

Oswine Bristow 1921-1974 & Sunnifu Bristow 1918-1974

Nicht mal Geld für mehr als die Jahreszahlen habe ich damals aufbringen können. Es tut mir leid. Am Anfang habe ich Rotz und Wasser geheult. Und das jedes Mal, wenn ich hier stand. Mittlerweile geht's. Im September werden es jetzt zwei Jahre sein.

Nach einem kurzen Blick auf mein Handgelenk, mache ich auf der Stelle kehrt und gehe auf den Ausgang des Friedhofs zu. Die zwei Minuten sind seit einer halben Minute vorbei. Die Kiesel des unbefestigten Weges knirschen unheilvoll laut unter meinen Schuhen und ich habe das Gefühl, dass ich beobachtet werde. Zwei Augenpaare spüre ich ganz deutlich in meinem Rücken und ich bin mir sicher, dass es die Seelen meiner Eltern sind, die mich dafür verurteilen, dass ich es lediglich neun Minuten und dreißig Sekunden ausgehalten habe an ihrem Grab zu stehen. Als ich das unheilvolle Eisentor passiere, das beinahe wie das Tor zur Unterwelt wirkt, versuche ich die Tränen in meinen Augenwinkeln geflissentlich zu ignorieren. Ich hasse den Tod.

Ich vergrabe meine (selbst in Handschuhen) frierenden Hände in den Taschen meiner Lederjacke und schlage den Weg Richtung Stadtäußeres ein. Weg von dem Lärm der Autos und dem Trubel der Geschäfte. In London wird es zwar nie still, aber es gibt abgelegene Orte, an die die meisten Leute sich nicht trauen.

Vom Friedhof bis zu meiner Zweizimmerwohnung in einem solchen Seitenviertel Londons sind es gerade einmal zwanzig Minuten Fußweg – wenn ich extra langsam laufe (was ich so gut wie immer tue). Heute ist da keine Ausnahme. Es ist Mittwochabend. Morgen muss ich erst um zwölf Uhr bei der Arbeit sein und im Grunde interessiert es auch keinen, wenn ich mich um zwanzig oder dreißig Minuten verspäte. Ich arbeite in einem der größeren Einkaufsläden hier in der Gegend, aber nur im Lager, wo mich ohnehin niemand zu sehen braucht. Mein Kollege würde zwar verärgert sein, wenn ich nicht auftauche, aber nach einmal Bier ausgeben, wäre das auch geklärt. So funktioniert diese Muggelwelt eben. Meine bittersüße Welt.

Ich habe versucht die wundersame Welt der Magie zu betreten, mir am Ende aber nur die Knie aufgeschlagen. Und mein Herz gebrochen.

Ich seufze auf und beobachte wie mein Atem in dem schmutzig gelben Licht einer Laterne in der Nachtluft verraucht, dabei fällt mein Blick in eine Seitengasse, in der ein Neonschild auf einen Pub aufmerksam macht. (Einen, den ich noch nicht kenne.) Darunter steht eine dieser Kreidetafeln, die man als Schild aufstellen kann. Mit Neon-Leuchtstift stehen darauf reißerische Angebote geschrieben.

William Bristow | HP FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt