𝟎𝟏 | 𝑡ℎ𝑒 𝑏𝑒𝑔𝑖𝑛𝑛𝑖𝑛𝑔

81 5 1
                                    


𝗘 𝗟 𝗟 𝗔

Der Regen prasselte am Abend über ganz London, und es ließ mich die Kälte bis in die Knochen spüren. Meine Kleidung war durchnässt, meine Unterlippe zitterte, und doch saß ich vor dem Grab meines verstorbenen Vaters. Neben mir lag der letzte Band unserer Lieblingsbuchreihe: *Harry Potter und die Heiligtümer des Todes*. Es war auch der Band, den mein Vater nie mehr lesen konnte. Oliver Wilson war vernarrt in diese magische Welt und hatte jedes Mal aufs Neue vor Freude gestrahlt, wenn J.K. Rowling einen neuen Teil veröffentlichte. Vater war, so nehme ich an, der größte Fan des Harry-Potter-Universums.

Eine einzelne Träne rollte mir über die Wange. Es war der 26. Juni 2008, heute vor genau einem Jahr, dass Oliver an einem Herzstillstand starb. Seitdem war mein Leben aus den Fugen geraten. Zu Hause, wenn man es noch so nennen konnte, herrschte das Chaos. Meine Stiefmutter sowie meine Stiefschwestern, Sophie und Chloe, behandelten mich wie ihre persönliche Dienerin. Ella Loreen hier, Ella Loreen da – immer dieselben Befehle: Mach dies, mach das, mach jenes.

Mein Körper sendete mir immer öfter Warnsignale. „Hör auf!", schrie es in mir, als würde ich langsam in tausend Fasern zerfallen, Gefühl um Gefühl verlierend. An manchen Tagen spürte ich nichts mehr – weder körperlich noch emotional.

Mit meinem Vater starb auch ein Teil von mir, an dem Tag, als er auf unserer Familienfeier einfach zusammenbrach und nie wieder aufstand. Ein schrilles Klingeln riss mich aus meinen düsteren Gedanken zurück in die Gegenwart. Mein altes Siemens-Handy leuchtete auf. Kurz überlegte ich, es zu ignorieren, aber mein Finger drückte schon auf das grüne Symbol. „Ella Loreen! Wo treibst du dich wieder herum!?" Die Stimme meiner Stiefmutter dröhnte so laut, dass ich den Lautsprecher nicht brauchte, damit jeder in der Nähe es hörte.

„Tut mir leid. Ich komme nach Hause." Ein Zuhause war es längst nicht mehr, eher ein unbezahlter Job. „Sieh zu, dass du schnell nach Hause kommst!" Mit einem Piepton endete das Gespräch. Ich schnappte mir das durchnässte Buch und erhob mich.

Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meinem Magen aus, als ich vor der düsteren Gasse stand. Meine Instinkte rieten mir, nicht weiterzugehen, doch es war der schnellste Weg nach Hause. Fest umklammerte ich das Buch, als könnte es mich schützen.

Mit schnellen Schritten betrat ich die Gasse, entschlossen, sie so schnell wie möglich zu durchqueren. Doch je näher ich dem Ende kam, desto stärker wurde das Unbehagen in mir. Plötzlich erstarrte ich vor Schock bei dem Anblick, der sich mir bot. Ein Mann lag am Boden, während ein anderer brutal auf ihn einschlug. Mein Herz raste, als ich die beiden Gestalten daneben bemerkte, die stumm und gleichgültig zusahen.

Ich biss die Zähne zusammen, um nicht loszuschreien. Schnell überlegte ich, wie ich dem Mann helfen konnte. Doch bis die Polizei eintreffen würde, könnte es für ihn bereits zu spät sein. Diese Männer waren groß und muskulös; ihnen entgegenzutreten kam nicht in Frage. Erneut hallte ein schmerzverzerrtes Stöhnen durch die Gasse, gefolgt von einem rauen Gebrüll. Langsam wich ich zurück, doch mein Herz setzte aus, als einer der Männer eine Waffe zog.

Mein Atem stockte, als der Angreifer die Pistole auf den wehrlosen Mann richtete. In Panik schrie ich auf – und bereute es sofort. Drei Gesichter wandten sich mir zu. „Was haben wir denn hier?" Die raue Stimme ließ meine Lunge sich zusammenziehen; ich wusste, dass ich in ernsthaften Schwierigkeiten steckte. Verzweifelt klammerte ich mich an das Buch, als könnte es mich wirklich beschützen.

„Lauf, Mädchen, lauf!", ächzte der verletzte Mann. Mein Herz setzte aus, als der Schläger sich aufrichtete und mich fixierte. „Holt sie", befahl er den anderen beiden. Meine Beine begannen zu zittern, als einer von ihnen auf mich zukam.

Ich riss die Augen auf, als eine dunkle Silhouette schnell näher kam. „Verdammt!", schrie ich und ließ mein Buch fallen, bevor ich wie von selbst losrannte. „Bleib stehen! Wir kriegen dich sowieso!" Doch wenn sie dachten, ich würde gehorchen, hatten sie sich geschnitten.

Doch leider musste ich feststellen, dass sie schneller waren, als ich es erwartet hatte. Meine Lunge brannte, meine Augen tränten, während der Regen mein Gesicht peitschte. Ich wusste nicht, wohin ich rennen sollte, aber eins war mir klar: Mein Körper war zu schwach, um lange durchzuhalten. Panisch suchten meine Augen nach einem Ausweg und blieben am Friedhof hängen.

Mit etwas Glück war die Kirche vor dem Friedhof offen, und ich könnte mich dort verstecken. „Verdammt", flüsterte ich keuchend, als ich fast auf dem rutschigen Boden ausgerutscht wäre. Zwischen den Grabsteinen huschte ich hin und her, bis ich schließlich vor dem Gotteshaus stand. Klischeehafter hätte es nicht sein können: Natürlich war die Tür verschlossen.

Hinter mir hörte ich das Getrappel der Männer, und erneut schnürte sich meine Lunge zu – kein Versteck in Sicht. Ohne weiter nachzudenken, rannte ich wieder los und überquerte den ganzen Friedhof in einem Zickzackmuster. Ich konnte das Keuchen der Männer hinter mir hören, was mir ein flüchtiges Lächeln entlockte, auch wenn es mir nicht besser ging.

„Hab ich dich, ragazza", erklang eine tiefe Stimme vor mir, als ich plötzlich in die Arme eines dritten Mannes lief. Er stand direkt vor dem einzigen Ausgang des Friedhofs. „Bring sie ins Auto", befahl er den anderen, und der Mann, der mich festhielt, schubste mich grob zu ihnen.

„Nein!", schrie ich verzweifelt und schlug um mich, doch mein Körper versagte, und ich brach erschöpft in den Armen des Mannes zusammen, der mich nun fest umklammerte. Mit Leichtigkeit warf er mich über seine Schulter.

Vor einem schwarzen Sportwagen, der den Inbegriff von Reichtum verkörperte, blieben wir stehen. Der Schlägertyp, der mich auf dem Friedhof abgefangen hatte, sprach in einer fremden Sprache zu einem anderen. Sie begannen zu diskutieren, bis der Mann, der mich trug, das Gespräch unterbrach. Rasch wurde eine Autotür geöffnet, und ich wurde hineingeworfen.

„Ragazza, wo ist dein Handy?", fragte der Schläger. Zitternd deutete ich auf meine Hosentasche. „Gib es mir." Ich sah ihm direkt in die Augen und schüttelte den Kopf. „Das kannst du vergessen!"

Er kniff die Augen zusammen und atmete tief durch. „Entweder du gibst es mir, oder ich nehme es mir selbst." Widerwillig übergab ich ihm mein Handy, denn ich wollte wirklich nicht, dass er nach meinem Handy an meiner Hüfte suchte.

„Das sollte für den Flug reichen", sagte einer der Männer beiläufig. Welcher Flug? Die Frage blieb unbeantwortet, denn plötzlich spürte ich den kalten Einstich einer Nadel in meinem Arm. Sekunden später hüllte sich alles in Dunkelheit um mich.

𝐓𝐑𝐔𝐒𝐓 𝐌𝐄 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt