𝟎𝟓 | 𝑡𝑒𝑎𝑟𝑠

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𝗘 𝗟 𝗟 𝗔

Mein Blick glitt unruhig über den langen, kunstvoll gedeckten Esstisch, an dem mehrere Personen verteilt saßen. Am Kopf des Tisches saß ein älterer Mann, dessen Autorität wie ein unsichtbarer Schleier den Raum erfüllte. Er beobachtete mich mit einem Ausdruck, der keine Widerrede duldete, und wies mit einer fast schon beiläufigen Geste auf die freien Stühle, als wäre es selbstverständlich, dass ich mich zu ihnen gesellen würde. „Mia nuora, setz dich bitte zu uns", sagte er mit einer tiefen, ruhigen Stimme. Es war ein Befehl, keine Bitte, und jeder Muskel in meinem Körper wollte sich umdrehen und fliehen. Die Panik krallte sich in meinem Inneren fest, doch die Hand, die fest auf meinem unteren Rücken ruhte, hinderte mich daran.

„Lass ihn nicht warten, mia bella. Vito ist nicht der Geduldigste", flüsterte die raue Stimme meines Verlobten dicht an meinem Ohr. Sein Atem streifte meine Haut und ließ einen kalten Schauer über meinen Rücken laufen. Er stand so nah hinter mir, dass ich seine Wärme durch die Kleidung hindurch spürte, seine Präsenz erdrückend und allgegenwärtig.

Zu nah. Er war viel zu nah.

Mit einem sanften, aber unmissverständlichen Druck schob seine Hand mich in Richtung des dunklen, massiv aussehenden Esstisches. Ich spürte, wie meine Schritte mechanisch wurden, als würde mein Körper sich aus eigenem Antrieb bewegen, während mein Geist in einem Nebel gefangen war. „Buonasera, Ella", lächelte mich die Frau an, die rechts neben Vito saß und seine Hand zärtlich in ihrer hielt. Ihre Augen funkelten freundlich, aber auch prüfend, als ob sie versuchte, in mir zu lesen. „Hallo", flüsterte ich kaum hörbar zurück, meine Stimme eine Spur von dem Selbstbewusstsein, das ich einst besessen hatte.

„Setz dich", sagte Dario mit einem leichten Kopfnicken in Richtung eines freien Stuhls neben Adriana. Zögernd ließ ich mich auf den Stuhl nieder, meine Bewegungen unsicher, als wäre der Boden unter mir aus dünnem Eis. Adriana beugte sich leicht zu mir hinüber und flüsterte mit einem leisen Lächeln: „Hey." Ihre Stimme war warm, fast vertraut, und es war ein kleiner Trost in dieser eisigen Umgebung. „Hi", antwortete ich zurück, bemüht, normal zu klingen, doch meine Stimme klang brüchig, als würde sie jeden Moment versagen.

„Wie geht es dir?", fragte sie leise, ihr Ton voller Sorge. „Gut", log ich und versuchte, meinem Gesicht einen Ausdruck zu geben, der diese Lüge untermauern könnte. Ich hielt ihrem durchdringenden Blick stand, der mich genau prüfte. „Wirklich", fügte ich hinzu, meine Lippen zu einem schwachen Lächeln verzogen. Sie sah mich noch einen Moment lang an, als würde sie in meinen Augen nach der Wahrheit suchen, bevor sie schließlich nickte und sich wieder ihrem Essen zuwandte.

Hinter mir ertönte plötzlich eine zarte, fast unscheinbare Stimme, die mich aus meinen Gedanken riss. Mein Blick wanderte zu einer dunkelhaarigen Frau, die mich mit einem abwertenden Ausdruck musterte, als wäre ich ein Eindringling, der hier nicht hingehörte. Ihre Augen durchbohrten mich, als wäre ich eine lästige Fliege, die sie mit einem Schlag vertreiben wollte. „Was möchten Sie trinken?", fragte sie höflich, doch die Kälte in ihrer Stimme ließ mich zusammenzucken. „Ein Wasser bitte", flüsterte ich und fühlte, wie meine Stimme wieder versagte. Die Frau nickte leicht, doch ihr Gesichtsausdruck blieb unverändert, fast gequält, als ob sie gezwungen wäre, diese Rolle zu spielen. Sie drehte sich um und ging mit gemessenen Schritten auf eine Tür zu, als wollte sie so schnell wie möglich wieder verschwinden.

Die Minuten zogen sich endlos hin, während ich mit meiner Gabel das Essen auf meinem Teller hin und her schob. Der Duft der Speisen war verlockend, doch mein Magen war wie zugeschnürt. Ich konnte keinen Bissen hinunterbringen, egal wie sehr ich mich bemühte. Doch die Blicke der Familie, die immer wieder auf mich gerichtet waren, ließen keinen Zweifel daran, dass ich besser essen sollte. Es war eine dieser unausgesprochenen Regeln, die in diesem Haus galten – Regeln, die man besser nicht missachtete.

𝐓𝐑𝐔𝐒𝐓 𝐌𝐄 Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt