11 - Vorgeschmack

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Gehetzt wirft Milan einen Blick auf die Uhr. Nein, das geht sich auf keinen Fall noch aus. Er muss sich entscheiden, entweder Kai oder seiner Tanzgruppe abzusagen, für deren Unterricht er heute verantwortlich ist. Dass er darüber überhaupt nachdenkt, schimpft Milan mit sich selbst. Mittels Sprachnachricht gibt er Kai den bereits zweiten Korb in dieser Woche.

Wie kann man in den Ferien bloß solchen Freizeitstress anhäufen? Wie erwartet, meldet sich Kai nicht mehr zurück, obwohl Milan die beiden blauen Häkchen neben seiner Nachricht sieht. Vermutlich fühlt er sich in seinem Stolz verletzt, was Milan gut verstehen kann.

Sollte er ihm am Wochenende nicht im Club über den Weg laufen, wird er ihn am Sonntag einfach zuhause besuchen und sich entschuldigen. Doch das Tanzen hatte immer schon Vorrang und das wird sich auch für irgendeinen Typen nicht ändern.

Er holt Lucy, führt sie eine Runde um den Block und geht daraufhin schnurstracks zum Ballettsaal, um die Choreos einzustudieren, die er gleich mit der Gruppe durchgehen wird. Letzte Woche gab er seine erste Unterrichtsstunde und er war eindeutig zu wenig vorbereitet.

Heute wird es besser laufen, da ist er sich sicher.

Er wählte eine einfache Choreografie, die er gestern nach der offiziellen Stunde seinen Kollegen und Kolleginnen austeilte - und ist sauer, als sich herausstellt, dass nur drei von acht Leuten sich die Schritte eingeprägt beziehungsweise überhaupt durchgesehen haben.

„Ihr versteht das wohl nicht. Ich mache das in meiner Freizeit, okay? Ich erarbeite die Schritte, bin hier, und bereit euch weiterzubringen. Wenn jemand das Tanzen nicht ernst nimmt, soll er bitte gehen. In Zukunft werde ich nur noch die Tänzer unterrichten, die mir den nötigen Respekt entgegenbringen und der erste Schritt dazu ist, dass ihr euch die verdammten Schritte einprägt." Nicht nur er selbst ist überrascht von seiner klaren Ansage.

Ein betretenes Schweigen geht durch die Runde, doch Milan weiß, woher sein Zorn kommt. Er hat für diese unmotivierten jungen Leute darauf verzichtet, Kai zu sehen.

„Gut, versprecht mir einfach, dass es das nächste Mal besser läuft. Lasst uns starten."

Bestärkt in seiner Studienwahl, die er diese Woche getroffen hat, verabschiedet er sich nach zwei Stunden von seinen Schülern.

„Ich habe heute so viel gelernt, wie im gesamten letzten Monat. Du machst das so super!", lobt sie ihn, als sie gemeinsam die Ballettschule verlassen und zum ersten Mal blickt Milan zuversichtlich auf die nächsten Jahre in Österreich. Er hatte sich für einen Studienplatz für Musik- und Tanzwissenschaften beworben, der ihm - vermutlich wegen dem Bekanntheitsgrad seiner Mutter - spontan zugesagt wurde.

Noch auf dem Heimweg schreibt er Kai nochmals eine Nachricht, um sich zu entschuldigen. Damit es nicht nach einer plumpen Ausrede klingt, erzählt er ihm von seiner neuen Aufgabe, was Kai zum Zurückschreiben animiert.

„Das freut mich, kleine Ballerina. Schönen Abend noch."

„Sehen wir uns am Samstag?", fragt Milan, um zu signalisieren, dass er den Rapper noch nicht abgehakt hat.

„Werde zwar irgendwann auftauchen, weiß aber noch nicht, wann."

„Ich werde auf dich warten", schreibt Milan zurück. Das ist er ihm nach dieser Woche wohl schuldig.

Am Samstag steht Milan unentschlossen vor dem Kleiderschrank und legt verschiedene Kleidungsstile auf seinem Bett zurecht. Ihm ist danach, sich heute feminin zu kleiden, seine frisch geschnittenen Haare wie früher über dem Undercut zu einem französischen Zopf zu flechten und dazu das schwarze, leicht transparente Calvin Klein Shirt mit dem engen Stehkragen anzuziehen. Doch immer wieder fragt er sich, wie Kai wohl auf diesen femininen Look reagiert.

MAILAND - Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt