1. AKT, 1. SZENE

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SEPTEMBER

***

KATE

Ein Sonnenstrahl schien durch das Fenster auf die Tastatur und beleuchtete zum ersten Mal diese Woche den Raum.

"Gestern habe ich von etwas Schönem geträumt.", ich hob eine Hand und schlängelte sie um die Schläuche herum, an die meine Mutter angeschlossen war. Ich drehte mich von der Tastatur weg und wandte mich ihr zu, meine andere Hand immer noch auf den Tasten, als ich den Schlussakkord drückte und mit dem Fußpedal den Klang in einem Diminuendo im ganzen Zimmer erklingen ließ.

"Hast du deswegen das Wiegenlied für mich gespielt?", sie nickte in die Richtung des alten und verstimmten Klaviers. Es wurde vor mehr oder weniger hundert Jahren angefertigt und würde bestimmt noch einige Jahre durchgehalten, hätten wir das nötige Geld für seine Restoration in den Händen.

Ich nickte: "Ich habe geträumt, dass du wieder gesund bist.", ich zog ihre Hand vorsichtig an die Tastatur neben meine. Mamas Fingerknöchel waren angeschwollen, denn schon seitdem sie jung war, kämpfte sie mit Arthritis. Aber sie hatte den Willen, mir und anderen Kindern beizubringen, zu spielen.

"Ich hole deine neue Medizin Montag früh von der Apotheke.", sagte ich dann.

"Kath, das musst du nicht, du musst zur Uni–", ich schnitt meine Mutter ab. Montag würde ein neues Semester für mich beginnen. Das letzte Semester. Und schon hatte ich einen Master in der Tasche.

"Dann hole ich die Medikamente vor dem Unterricht und fahre danach direkt zur Uni.", versprach ich. Die Apotheken öffneten um neun in der Frühe, ich würde es sowieso nicht rechtzeitig zur Vorlesung schaffen. Ich war seit über vier Jahren auf diesem College und meine Professorin wusste bereits, wie es meiner Mutter ging. Sie würde mir hoffentlich eine Ausnahme machen, wenn ich sie anflehte.

"Spiel mit mir den Marsch in Es-Dur von Clari.", sprach ich ein anderes Thema an. Ich griff neben das Klavier in das Regal, wo Notenhefte sich befanden, und suchte ein hellgrünes Heft mit der Aufschrift C. Schumann auf. Links mir schob sich der Rollstuhl an die Tastatur und ich schob den Hocker ein Stück zur Seite, sodass Mama genug Platz haben würde.

"Frisch und lebendig.", Mama las die Anmerkung, die über den Noten stand, auf Deutsch vor, bevor sie das ins Französische übersetzte. Beinahe lachte ich, denn keine von uns war weder frisch noch irgendwie auf einem guten Weg zu lebendig.

"Eins und.", Mama legte ihre Hände auf die Tastatur. Ich folgte ihren Handbewegungen, während ich den Auftakt und einen weiteren Takt zählte, bis ich dann einsetze.

Der Marsch war die letzte Komposition, die sie 1878 geschrieben hatte. Zuerst für zwei Hände, dann für vier, da sie es für die goldene Hochzeit eines eng befreundeten Ehepaars - Hübner - verfasst hatte. Clara Schumann selbst war verheiratet, hatte acht Kinder und war dazu noch Versorgerin der Familie, da Robert Schumann an Depressionen und Selbstzweifel litt und sich irgendwann auch mal von der Oberkasseler Brücke in Düsseldorf in Deutschland schmiss.

Acht Kinder, um Gottes Willen. Naja, wenn man so verliebt war, wie die beiden es damals waren.

Wie Robert einmal geschrieben hatte, in einem Brief an Clara: "Ich klammere mich an Dir fest; gibst Du nach, so ist es um mich geschehen."

Und Clara ihm berichtete, wie ihr Vater nicht mit ihrer Beziehung einverstanden war: "Baue so fest auf mich, nun wie ich auf Dich – dann ist uns kein Hindernis zu groß, wir bieten Allem Trotz, wenn nicht höhere Mächte sich zwischen uns stellen."

Oder: "Vater hat gestern wieder zu Nanny gesagt »wenn Clara Schumann heiratet, so sage ich es noch auf dem Todtenbett, sie ist nicht wert, meine Tochter zu sein«, Robert, schmerzt das nicht? Meine Empfindungen lassen sich nicht beschreiben, doch Alles will ich erleiden, wenn es für Dich ist."

Einmal geliebt zu werden wie die beiden sich liebten... so schnell würde ich die Hoffnung nicht aufgeben.

***

"Fünf Minuten, Ladies.", der Manager rief in Richtung der Umkleiden. Das Management änderte sich hier so oft, ich machte mir nicht mehr die Mühe, seinen Namen zu lernen. Wahrscheinlich würde er in zwei Monaten eh weg sein, wie die letzten beiden. Das Tous Les Soirs fühlte sich an wie mein drittes Zuhause. Es gab kein Wochenende, das ich nicht hier verbrachte und mich, wie Cardi B es damals getan hatte, herum nudelte.

"Ich bin gleich da.", rief ich aus dem Raum heraus. Weitere Stimmen folgten die meiner, versicherten, sie seien in einigen Minuten bereit.

Noch einmal sah ich in den Spiegel, um nachzuschauen, ob alles okay aussah. Ich hatte meine Haare in zwei Space Buns gebunden und ließ einige Strähnen an der Seite meines Gesichts herabfallen. Sie würden mir ins Gesicht fallen, sobald ich mich einmal Kopfüber an der Stange gedreht habe, aber das war es mir wert. Ich sah aus wie eine Filmfigur. Ich sah aus wie Prinzessin Leia von Star Wars.

Die Männer mochten den Princess-Leia-Vibe, den die beiden Dutts gaben. Und ich mochte das, was dabei herauskam. Je mehr davon kam, desto länger hätte ich meine Mutter bei mir.

Ich mochte es nicht, wie Männer, wahrscheinlich doppelt mein Alter, und meistens dann auch noch verheiratet, ihre Hände nach mir streckten, wie hungrige Tiere, und ich hasste es, in einem privaten Raum mit ihnen zu sein, ohne zu wissen, ob ich da mit einem gesunden Geist rauskam, aber es handle sich nur um eine halbe Stunde mit ihnen, keine Jahre.

Meine Mutter zählte in Monaten, nicht mehr Jahren. Die Ärzte sagten, für ihr Stadium konnten sie nichts mehr tun, aber für mich würde es alles bringen, könnten wir ihre Zeit hinauszögern. Je schneller ich an die unendlichen Summen von Chemotherapie und Medikamente kam, desto länger würde sie hier bleiben.

Ein letztes Mal für heute Abend rammte ich mir eine Haarnadel in den Schädel, bevor ich alles noch mit Haarspray befestigte und die Umkleiden verließ. Ich schloss meine Tasche und meine Klamotten in eines der Spinde, die Backstage für uns zu Verfügung standen, nahm einen kleinen Beutel, in dem Taschen- und Feuchttücher, Gripmittel für die Pole und sonstige Hygieneartikel befanden und lief zu meinen Kolleginnen, die bereits in einer Reihe standen, bereit, um Tous Les Soirs an einem bereits voll vorhergesehenen Samstagabend zu eröffnen.

"Mögen die Mächte mit dir sein, petite amie.", die Hand von Rania befand sich an meiner Hüfte, als sie mich zu sich zog. Sie zwinkerte mir zu und drückte einen federleichten Kuss mit ihren blutroten Lippen auf meine Wange.

"Wenn ich nicht auf Männer stände, würde ich ohne Scheiß dich dazu bitten, dich auf mein Gesicht zu setzen.", sagte sie leise in mein Ohr, sodass keiner es hören konnte, außer ich.

"Wenn ich später niemanden finde, werde ich noch einmal darauf zukommen.", versicherte ich ihr und schürzte meine Lippen zu einem Kussmund.

Dafür, dass Rania nun mit anderen Wunderleuten und Naturtalenten im Orchestre de Paris saß als einer der ersten Geigen, wusste ich nicht, warum sie noch diesen Job machte. Rania hatte mir das Tous Les Soirs vorgestellt, als ich sie fragte, wie man schnell an Geld käme, ohne Verträge abschließen zu müssen.

Es war ein Höchstbetrag angegeben, den man bezahlt bekam, wenn man alle seine Stunden voll hatte, welcher aber so tief war, dass man keine Steuern zahlen musste. Die Regierung hatte sich aber nicht gedacht, dass das meiste an Geld, was wir bekamen, Tips waren und wir so wortwörtlich legal das Steuergesetz umgingen.

"Allez-y, Mesdames!", die Stimme des Managements schrie aus den Boxen und die Türsteher öffneten die Türen.

Allons-y, Maman.

TRITONUSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt