Kapitel 9.1

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Wie ist es, einen Teil von sich selbst zu verlieren? Hinterlässt die vergessene Erinnerung eine merkbare Leere in ihm?

Für derlei Fragen ist es lange zu spät. Und obwohl der Zeitpunkt für Zweifel überschritten ist, fragt sich Michael, ob er wirklich weiß, worauf er sich da einlässt.

Ich muss es tun, sagt er sich. Um mein Ziel zu erreichen. Die Konsequenzen werden sich erst zeigen, sobald er sie am eigenen Leib erfährt.

Wes erwartet seine Mahlzeit, die gierig flirrenden Augen auf ihn gerichtet. Sein Griff um Michaels Hand verstärkt sich, als dieser nichts sagt. „Fürchtest du dich?"

„Nein", antwortet er energisch, was das Beben in seiner Stimme nicht gänzlich verbirgt. „Ich muss mich nur noch für eine Erinnerung entscheiden. Welche ist egal, oder?"

Der Eindringling nickt zur Antwort.

Michael grübelt fieberhaft und fixiert ihre Hände, der Kontakt mit jeder verstreichenden Sekunde unerträglicher. Da kommt ihm eine Idee: Warum nicht die Gelegenheit nutzen, etwas Ballast loszuwerden?

Er hebt den Blick. „Ich habe mich entschieden."

„Dann visualisiere sie vor deinem geistigen Auge. Rufe dir jede Einzelheit ins Gedächtnis, damit ich danach greifen kann."

Er tut wie geheißen, schließt die Augen und stellt sich jene Szene vor, die sich einige Stunden zuvor an seinem Klavier abgezeichnet hat. Es braucht nicht viel, da umranden ihn die nackten Wände seines Kinderzimmers. Wie die stickige Sommerluft staut sich darin der einstige Zorn und Kummer. Der etwa zwölfjährige Michael tigert durch den Raum, drückt seine Finger in die brennenden Augen, um die nahenden Tränen aufzuhalten.

Üben soll er. Üben, üben und nochmals üben. Etwas anderes darf er nicht.

Nur das ist ihr wichtig, ich zähle überhaupt nicht.

Er stampft zu seinem Klavier und schlägt wie wildgeworden auf die Tasten ein. Der Frust, der die letzten Wochen in ihm gekocht und gebrodelt hat, kämpft sich nach außen, hat nur darauf gewartet, die Kontrolle zu übernehmen.

Sie versteht mich einfach nicht.

Und das wird nie anders sein. Denn was Michael auch sagt: Ihr Verständnis ist an einem Ort, an dem er nicht gelangen kann. Irgendwo tief in ihr verschlossen.

Oder sie hat gar keins.

Denn genau wie bei allen anderen Differenzen hat sie es nicht gezeigt, scheint taub und blind für ihn zu sein.

Und dann weint Michael doch, erstickt und kleinlaut, damit sie ihn nicht hört. Seinen Ärger darf sie gern mitbekommen, jedoch nicht die Verletzlichkeit dahinter. Denn sie streiten stets im Stillen, ohne Worte, und diese zu offenbaren, käme vor ihr einer Bloßstellung gleich. Und die hat er schon oft genug erlebt.

Das ist nicht fair.

Wes' Kälte reißt Michael aus seiner Konzentration, als sie zu pulsieren beginnt, langsam erstarkt und in vibrierende Wellen übergeht. Sie strömen von Wes' Haut auf seine, durchqueren alle Muskeln und Sehnen, bis jede Haarsträhne durch die Erschütterung bebt.

Wes zieht ihn ein Stück näher zu sich heran. Die Schwärze in seinen Augen lichtet sich. Wie Sterne im Nachthimmel tauchen Lichtpunkte in ihnen auf und ziehen Michael in ihren Bann. Die Punkte vermehren sich, fressen sich durch Wes' Iriden, bis das gleißende Blau des Tors sie vollständig ausfüllt. Während sich die Wandlung vollzieht, reist die Erinnerung in bunten Bildern durch seinen Geist und verblasst innerhalb von Sekunden, verlässt sein Gedächtnis und geht an Wes über.

Der Schmerz fährt wie ein Blitz durch Michaels Schädel, er flucht stumm. Einen Augenblick erfasst ihn dieselbe Schwerelosigkeit, die er beim Sprung durch das Tor erfahren hat. Sein Körper hebt und senkt sich, ergibt sich der Schwerkraft, bis mit einem Ruck der Boden unter seinen Füßen wieder erscheint.

Vor Schreck reißt Michael die Augen auf. Endlich lockert Wes seinen Griff, worauf er ihn sofort loslässt und den ersehnten Abstand zwischen ihnen gewinnt.

„Man gewöhnt sich daran", kommentiert sein Begleiter.

Michael antwortet nicht, der Schwindel lässt seine Worte an ihm abprallen. Als sein Körper sich nach und nach reguliert, schaut er sich um.

Die beiden haben sich nicht vom Fleck bewegt. Dieselben Zimmer und Möbel umgeben sie, und dennoch ist alles anders: Die Luft ist mollig warm anstatt muffig, begleitet von dem Duft italienischer Kräuter. In der Küche steht schmutziges Geschirr, der Wasserhahn tropft, während das Kaminfeuer knistert und tanzende Schatten an die Wände malt.

Seine Knie werden weich.

Das Haus ist lebendig.

Und nicht nur das hat sich verändert. Hinter stockfinsteren Fenstern lauert die Nacht. Wo eben noch die Sonne strahlte, scheint nun sanftes Mondlicht.

Dann begreift auch Michaels Verstand, was sein Herz lange schon weiß.

Derselbe Raum, eine andere Zeit.

„Zweifelst du noch immer?", fragt Wes und lächelt zufrieden. Seine Augen haben ihre ursprüngliche schwarze Färbung angenommen. „Vielleicht musst du es spüren, um zu glauben. Probiere es aus." Er dreht sich um, sein langer Arm deutet auf den Kamin.

Nach kurzer Überlegung folgt Michael seinem Rat und tritt in den rötlichen Schein des Feuers. Reine Wärme hüllt ihn ein, kaum vergleichbar mit den Heizkörpern in seinem Apartment. Seine Muskeln entkrampfen sich dankbar, ein stummes Seufzen entgleitet ihm. Mit den Augen folgt er den Linien der gemusterten Teppiche, wie zu jener Zeit. Sogar derselbe, ungestüme Wind scheint ihn mit seinem Rauschen an den Fenstern willkommen zu heißen.

Es ist wie ein Traum, den er vor Jahren schon mal geträumt hat. Vertraut und fremd zugleich.

Michael lässt seine Finger über die Kratzer und Falten des Ohrensessels wandern. Die Hitze steigt ihm in die Wangen und die Enge in seiner Kehle kündigt aufkommende Tränen an. Er bemerkt es kaum, verdrängt die Anwesenheit des Eindringlings, seinen Weg hierher und dass alles nicht real ist. Denn das Gefühl ist echt.

So muss sich zuhause anfühlen.

Bis das friedliche Bild gestört wird. Etwas Dunkles wabert darin. Zuerst glaubt er, es handele sich um einen beliebigen zuckenden Schatten im Licht des Feuers. Nein, dieser ist anders. Es ist, als befände er sich in seinem eigenen Rhythmus.

Eine Gänsehaut überzieht Michaels Körper, dasselbe Prickeln, das der schleichende Schrecken in seiner Wohnung verursacht hat. Seine Augen wandern nach unten. Ein dunkler Fleck wabert direkt vor ihm auf dem Boden.

Mit einem Aufschrei stolpert er zurück und stützt sich an der Wand ab, um nicht zu stürzen. Mit dem ganzen Körper presst er sich an sie und kann doch nicht entkommen, denn er verfolgt ihn, züngelt in unbeständigen Formen unter ihm und klebt an seinen Füßen.

„Mein Schatten", japst er und zeigt mit dem Finger auf ihn. „Er lebt!"

Mit der Entfernung verblasst er nicht, sondern bleibt tiefschwarz wie ein quirliger Farbklecks. Wellenartige Erhebungen bewegen sich auf seiner Oberfläche, ähnlich einer Pfütze im Regen.

„Was ist das?!"

The Realm (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt