Kapitel 17

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Amaury bemerkt das Feuer erst, als es sich bereits ausbreitet. Das Holz ist alt und trocken, ein gefundenes Fressen für hungrige Flammen.

Sein entsetztes Gesicht wird Michael nie vergessen. Wie die Illusion einer friedlichen Nacht von der einen auf die nächste Sekunde zerbricht und er sein eigenes Leben und das seiner Liebsten schützen muss. Die Vorwürfe sich selbst gegenüber hinterlassen einen verzerrten Ausdruck. Um diese zu hören, muss er keine Gedanken lesen.

Ohne zu zögern stürmt Amaury in das Zimmer seines Sohnes, nimmt ihn samt Decke auf den Arm und tritt ins Freie. Dann setzt er diesen in sicherer Entfernung ab, beschwört ihn, an Ort und Stelle zu bleiben und spurtet zur Telefonzelle an der Straße, ruft die Feuerwehr und anschließend Violet an. Doch so schnell diese auch dorthin rasen – es ist umsonst. Sie können nur noch zusehen, wie das Elend seinen Lauf nimmt und die Hütte bis auf ihre Grundmauern niederbrennen lassen.

„Wir sollten auch nach draußen gehen", ruft ihm Wes ungerührt über das knackende Feuer hin zu. „Hier gibt es nichts mehr zu sehen."

Michael steht mitten im Flammenmeer, ignoriert Wes' Aufforderung. Sieht dabei zu, wie seine Zuflucht, alle Möbel, Teppiche, Zimmer und das Klavier verbrennen. Und er steht noch immer dort, als am Morgen nur noch Asche übrig bleibt.

Das ist alles meine Schuld.

Er hat mit einer einzigen Entscheidung sein eigenes Glück und das seiner Eltern zerstört. Amaury versucht, den Kleinen zu beruhigen, denkt, er weine aufgrund des Schocks.

Aber er weiß genau, was er angerichtet hat.

Erst als ein kleines, graues Auto zum Grundstück rast und quietschend anhält, Türen auf- und zugeschlagen werden, erwacht Michael aus dem Stillstand.

Die hastigen Schritte hinter ihm werden vom Gras geschluckt, doch in der jetzigen Grabesstille sind sie deutlich zu hören. Er dreht sich zu ihnen um.

Violet ist gekommen, das zottelige Haar zu einem unordentlichen Zopf zusammengeknotet, der Mantel ist offen und sitzt schief. Sie umarmt ihren Sohn, dann Amaury, mustert sie von oben bis unten und ist sichtlich erleichtert, dass ihnen nichts fehlt. Ihrem Kind, das wieder zu schluchzen beginnt, flüstert sie aufmunternde Worte zu.

„Wie konnte das passieren?", fragt sie, betrachtet den von Asche bedeckten Flecken Erde und fasst sich an die Stirn.

Amaury sieht den Jungen an, dann das Haus, genau in Michaels Richtung – als sehe er ihn – und kämpft mit den richtigen Worten, der Wahrheit. „Ich weiß es nicht. Das Feuer glühte nur noch, keine Ahnung, wie das passieren konnte. Ich glaube ... Ich glaube, es ist meine Schuld."

Deine ...?" Violet sieht ihn verständnislos an.

„Ich hab geraucht, vielleicht ..."

Michael kann ihm kaum verstehen, Amaury wird immer leiser, die Stimme schwankt und klingt erstickt. „Vielleicht habe ich eine nicht richtig ausgetreten oder so."

Der darauffolgende Schlag kommt unerwartet, für Amaury genauso wie für Michael. Er zuckt unwillkürlich zusammen, die schrille Stimme seiner Mutter sticht in seinen Ohren.

„Was ist nur los mit dir?!"

Amaury rührt sich nicht.

„Einmal lasse ich euch allein, nur ein einziges Mal – und du fackelst das Haus ab, euch beide fast mit!" Violet zeigt auf ihn, gestikuliert unbeherrscht mit den Händen, Hauptsache raus mit der Wut. „Du weißt, wie wichtig mir dieser Job ist, aber ich muss mich auch auf dich verlassen können."

Sie sieht gestresst auf die Uhr und seufzt. Michael nähert sich ihnen und erkennt, wie Amaurys Miene versteinert.

„Bald geht mein Flug, das war's mit Schlaf. Ich fasse es einfach nicht."

The Realm (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt