Kapitel 21

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Er sieht ihn ungläubig an. Wes' Hand wandert zu seiner Schulter, der Griff eisern wie der von starren Ketten.

„Befreie dich von diesem Unwesen, Michael. Von der ganzen Welt. Was hat sie dir schon gebracht außer Trauer und Leid?"

„Ich soll ... mein Leben aufgeben? Alles, was ich kenne?"

„Was willst denn du noch dort?"

Ohne dass Wes es bemerkt, fährt Michaels Hand erneut über den Asphalt und in seinen Schatten hinein.

„Du kennst nun die Wahrheit und sie hat dir nur mehr Unglück beschert."

Doch diesmal flüchtet er nicht. Diesmal hört er sich an, was sein Schatten – er selbst – ihm zu sagen hat. Er erzählt ihm von dem heranwachsenden Michael, der sich die letzten 28 Jahre in seinem Herzen versteckt hat. Jener, der endlich mit unausgesprochenen Gefühlen und Ängsten zu Wort kommt. Der sich unter dem Pianisten an der Oberfläche kleingemacht und versteckt hat. Und er sagt: Es gibt mehr. Eine ganze Welt wartet dort draußen auf dich.

Dies reicht, um zu verstehen.

„Was war das denn für ein Leben?", fragt Wes. „Eines, in dem dir die Wahrheit verschwiegen, Wünsche und Erwartungen aufgedrängt wurden. Eines, in dem du deinen Vater nicht kanntest. Eines, in dem dein Genie nicht dir gehört. Dein Leben gehört nicht dir."

„Selbst wenn ich nicht zurückkehre, nichts kann etwas daran ändern", wendet Michael ein.

Außer ich selbst.

Wes lacht kehlig auf. „Die Welt liegt im Auge des Betrachters. Und wenn ich denjenigen ändere, der sie betrachtet, ist nichts mehr in Stein gemeißelt."

Die Art, wie Wes ihn beäugt, zeigt eindeutig, dass er auf etwas anspielt, und Michael will wissen, was.

Was verschweigst du mir noch?

„Was meinst du?"

„Was glaubst du, wer dich hat vergessen lassen? Von all den kleinen Nichtigkeiten deines Lebens bis hin zu einem ganz bestimmten Brief, der deinen so hart erkämpften Frieden zerstört hätte?"

Michael schluckt, eine dunkle Vorahnung ergreift ihn und rieselt kalt seinen Rücken hinab. „Welcher Brief?"

„Der Brief deiner Mutter."

Welcher verdammte Brief?

„Ich erinnere mich nicht." Seine Stimme zittert. Michael konzentriert sich so sehr, kann in dem Gewirr an Erinnerungen aber nichts finden. Dabei liegt die Antwort auf der Hand, nur die Verzweiflung vernebelt seine Sinne.

„Dafür habe ich gesorgt." Wes steht auf, erhaben und stolz. „Bei dieser einen Sache kannst du mir vertrauen: Einmal gesehen, hat er dich aufgezehrt, Michael. Er hätte dich zerstört."

Michaels Hände verkrampfen sich auf dem bröckeligen Stein der Straße unter ihm. Er ist nicht fähig, etwas zu sagen, verarbeitet noch immer, was Wes ihm eröffnet.

Nicht nur hat er ihm völligem Chaos ausgesetzt und seine Musik gestohlen, sondern auch einer wichtigen Entscheidung beraubt. Violets Entscheidung, ihn zu kontaktieren und seine Wahl, darauf zu reagieren. Wes hat ihn isoliert, von Anfang an. Ihn in die Ecke getrieben, bis er sich in seine Gefilde gewagt und seinem Einfluss ausgesetzt hat.

„Sie konnte dich einfach nicht in Ruhe lassen. Also habe ich dafür gesorgt, dass du ihn vergisst. Zu deinem Schutz", fährt er fort.

„Dazu ... hattest du kein Recht", stammelt er. Sein Schatten reagiert auf den Schock, ein schwaches Lebenszeichen.

Die Verbindung erlischt allmählich.

„Ich habe es mir genommen. In deinem Interesse."

Michaels Herz hämmert in seiner Brust. „Hattest du jemals vor, mir irgendeine meiner Erinnerungen zurückzugeben? Gibt es sie überhaupt noch?"

„Spielt das überhaupt noch eine Rolle?"

„Es spielt eine Rolle! Du hast die ganze Zeit nur mit mir gespielt. Mich bestohlen, meinen Schmerz ausgenutzt. Und jetzt willst du verlangst du, dass ich mich aufgebe." Michael atmet schwer. „Wann hast du dich endlich an mir satt gefressen?"

„Da hast du mich wohl ertappt", antwortet Wes und zuckt mit den Schultern, ignoriert wohlweislich seine Fragen. „Ich schäme mich nicht für meinen Hunger. Aber lass dir gesagt sein: Wenn ich nehme, gebe ich, und dabei bleibe ich."

Wes nimmt einen tiefen, brummenden Atemzug. „Stell dir vor, was ich für dich tun kann, wenn du dich mir ganz hingibst. Deine Erinnerungen können mir die Macht geben, dich im Reich zu behalten! Dorthin zu reisen, wo auch immer du willst – frei zu sein. Doch dafür ..."

Wes leckt sich die langgezogenen Lippen. Ein wildes Gegacker dringt aus seinem Maul. „... musst du mir deinen Schatten ausliefern. Er ist die letzte Verbindung zu deinem traurigen, alten Leben. Wenn du dich von ihm trennst, kannst du es endlich hinter dir lassen und das Reich in vollen Zügen genießen. Kappe das Seil. Dann bist du endlich frei."

Michael zittert und schwitzt am ganzen Körper. Er kämpft gegen sich an, seine schwachen Beine und die schwere Brust und stellt sich der Schwerkraft entgegen. Erhebt sich mit seinem und gegen Wes nachtschwarzen Schatten und strebt nach dem Sonnenlicht, das nun seinen Haaransatz streift.

„Du hast recht, mein Leben ist beschissen, und ich habe nicht einmal bemerkt, wie sehr. Es liegt an jedem Menschen selbst, es zu betrachten und darüber zu urteilen. Und das bedeutet auch, dass ich es ändern kann."

Michael wappnet sich mit einem tiefen Atemzug für folgende Worte. Verdrängt die Angst, sich gegen ein Monster zu stellen, das die Kontrolle über sein Leben, seine Wahrnehmung und seine Erinnerungen an sich gerissen hat.

„Mein Schatten hat mir etwas offenbart. Das hat er schon die ganze Zeit versucht, auch in meiner Welt, in Träumen und schlaflosen Nächten. Doch ich war nie bereit, zuzuhören. Und das habe ich jetzt endlich getan.

Die Welt außerhalb meiner Musik spielt ihre ganz eigenen Melodien, und ich habe nur die gehört, die andere mir vorspielen – nicht jenen, die aus mir selbst kommen. Mein Schatten hat sie mir zugeflüstert, Wünsche, Sehnsüchte, Dinge, die ich mir nicht zu erfüllen wagte. Wenn ich meinen Schatten, mich selbst, jetzt aufgebe, werde ich nie erfahren, was es abseits der Musik gibt. Dann beherrscht sie mich weiter. Dann wird sie das mein ganzes Leben tun, und ich werde nie für mich selbst spielen.

An dem Vermächtnis meiner Familie kann ich nichts ändern, doch es ist noch nicht zu spät, einen neuen Weg einzuschlagen. Meine eigene Musik zu finden, die ich spielen will. Davor habe ich mich all die Jahre versteckt. Und das kann ich nur tun, wenn ich zurückkehre. Ich muss es mir selbst beweisen. Jetzt, wo nichts mehr vom Alten in mir ist, spüre ich sie ganz deutlich – die Leere. Sonst ist nichts mehr in mir."

Michael hält dem Blick des Eindringlings stand. „Du hast mich beraubt und gleichzeitig befreit. Und jetzt werde ich mir zurückholen, was mir gehört."

Wenn Wut ein Aussehen hat, verkörpert es Wes gerade. Sein Haar stellt sich auf, die blauen Augen weiten sich und er öffnet den Mund zu einem wütenden Knurren. Sein knochiger Körper bäumt sich über ihm auf. Michael hätte sich am liebsten klein gemacht und ergeben, doch sein Zorn drängt ihn dazu, sich dem nicht hinzugeben. Er ist wütend, dass er Teil seines falschen Spiels wurde. Weil Wes ihn beraubt und belogen und er selbst es widerstandslos über sich hat ergehen lassen. Wes hat sich seinen Schmerz, den Schmerz seiner Eltern zunutze gemacht, um seinen Magen zu füllen.

Und trotz alldem ... hat Wes ihm auch geholfen, seine eigene Wahrheit zu finden.

Ich werde meinen Schatten wiederbeleben.

Michael hört ihm jetzt endlich zu, seiner leisen, vorsichtigen Stimme, die sich vor dem Monster fürchtet und erzittert. Und so weiß er auch, was er tun muss: Das Seil ergreifen, um zurückzufinden. Sie müssen sich wieder vereinen, bevor es zu spät ist. Bevor sein Schatten unter Wes' Präsenz gänzlich schwindet.

Bevor Wes ihn also packen und davon abhalten kann, beugt Michael sich zu seinem Schatten hinunter, bildet mit seinen geformten Händen ein Auffangbecken und sammelt so den Schatten wie eine gräuliche Regenpfütze auf. Dann, mit dem schrecklichen Gebrüll von Wes in den Ohren, verschlingt er ihn.

The Realm (ONC 2024)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt