12. Jolly

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Der alte Brummbär war eine heruntergekommene, lärmende Spelunke, die Margo irgendwie unangenehm an die Bikerbar erinnerte, in der sie vor etlichen Jahren Liams Vater Jimmy kennengelernt hatte. Sie erinnerte sich noch gut an diesen Abend, an den hässlichen Streit mit ihren Eltern kurz davor, wie sie ihre Tasche gepackt und mit achtzehn mehr oder weniger wie ein Flusskrebs in ihren Wagen umgesiedelt war. Sie war aus der Stadt herausgefahren, hatte am Straßenrand diese unscheinbare Bar entdeckt und beschlossen, sich hemmungslos zu betrinken. Und genau wie damals sah sie hier fast nur ausgebrannte Alkoholiker in jeder Ecke sitzen, nur waren diese nun bis an die Zähne bewaffnet und folgten jeder ihrer Bewegungen durch den Raum mit feindseligen Blicken. Smee ging voran und schien nichts von der herrschenden miesen Stimmung zu bemerken. Er grüßte fröhlich umher und lief dann zielstrebig zum Barbereich hin und bestellte für sie Bier.

Margo reckte das Kinn und schaute sich um. Es dauerte nicht lange, bis sie den Idioten entdeckte; Hook hatte seine Unterarme mit den gefesselten Handgelenken auf einen der klebrigen Tische abgelegt und redete auf einen Kerl ein, der ihn seinerseits fixierte und liebevoll mit den Fingerspitzen das Klingenblatt seiner Axt entlangfuhr. Das war sein Plan?

„Er wird dir den halben Arm abhacken", prophezeite ihm Margo düster und ließ sich unaufgefordert neben den Piraten auf einen der freien Stühle fallen. „Das will ich wirklich nicht verpassen. Gibt's hier auch Popcorn?"

„Leider nicht, Mademoiselle", meinte Smee untröstlich und reichte ihr stattdessen einen Humpen. „Nur Krabbenchips."

„Hm", machte sie und nippte abwartend die Schaumkrone ab.

„Oh ... Tick Tock hat dich also nicht gefressen", sagte Hook neutral, ohne wirklich auf Margo zu achten. „Nun mach schon, Riley."

Angesprochener rotzte aus, sodass ein schleimiger Klumpen auf dem Boden landete und hob dann zweihändig die Axt über seinen kahlen Hinterkopf.

„Das ist wirklich eine ganz beschissene Idee", erwähnte Margo nochmals, doch zu spät – das Klingenblatt sauste hinab und schlug krachend auf Metall.

Margo blinzelte, aber immerhin floss kein Blut und es kullerte auch kein abgetrennter Finger über die Tischfläche.

„So ein Mist", knurrte Hook und betrachtete missmutig die von der Axt verursachte Einkerbung in den Handschellen.

„Tja, das sind halt Scotland Yard Qualitätshandschellen", behauptete Margo spitz.

„Nun, wenn du schon hier bist, kannst du mich auch endlich hiervon befreien." Er hob genervt die Handgelenke an. „Denn ich habe meinen Teil der Abmachung bereits erfüllt."

„Wirklich?", fragte Margo gereizt. „So siehst du das? Denn ehrlich gesagt kann ich mich nicht daran erinnern, dass in das Maul eines Monsterkrokodils geschubst zu werden, Teil unserer Abmachung war."

„Du bist in Neverland, oder nicht?", fragte er unbeeindruckt zurück. „Jetzt kannst du fröhlich durch die Wälder streifen und nach deinem Balg suchen. Gratuliere, Margo. Also?"

Margos Nasenflügel bebten vor Wut. Eigentlich sollte es sie nicht weiter kümmern, aber irgendwo hatte er recht. Er hatte sie mit nach Neverland genommen und seinen Teil der Abmachung durchaus erfüllt. Zumindest das Minimum davon.

„Na gut", sagte sie zähneknirschend und wollte schon in die Innentasche ihres Mantels greifen, um den Schlüssel daraus hervorzufingern, da fiel ihr wieder ein, dass sie den Mantel ja vorhin ausgezogen und auf dem Meerjungfrauenfelsen zurückgelassen hatte. „Shit."

„Was?"

„Nun ..." Margo wich seinem stechenden Blick aus. „Ich habe vorhin dummerweise meinen Mantel zurücklassen müssen. Auf einem Felsen, kurz vor der Küste. Und der Schlüssel befindet sich noch darin."

Lost Boy_A Neverland StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt