3. Der Kerl mit der Hakenhand

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Für Margo verstrichen die Stunden nach Liams Verschwinden in seltsamen Wellen. Alles fühlte sich surreal an. Wenige Minuten kamen ihr wie Stunden vor, verstreichende Sekunden dagegen wie Ewigkeiten.

Nachdem sie das Verschwinden ihres Sohnes bemerkt und in schierer Verzweiflung sofort Ted angerufen hatte, nahm sie ihre Umgebung nur noch gedämpft wahr, wie durch Watte. Als hätte irgendwer eine Glaskuppel über sie gestülpt, die Margo vollkommen von der Außenwelt separierte.

Kollegen von der Spurensicherung, in weißen, hochgeschlossenen Schutzanzügen, durchstreiften wie unheimliche Geisterwesen die Dachgeschosswohnung und sicherten emsig Proben.

Margo hockte mit untergeschlagenen Beinen in dem türkisfarbenen Sessel im Wohnzimmer und umklammerte mit zittrigen Fingern ihre Tasse erkalteten Kaffee, wie ein Ertrinkender seinen Rettungsring.

Das konnte einfach nicht sein. Sie träumte. Einen wirklich schlimmen Alptraum, aus dem es einfach kein Erwachen gab.

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie ein silbriges Aufblitzen und drehte irritiert den Kopf. Jemand von der Spurensicherung hatte sich vor das vernagelte Kinderzimmerfenster gestellt und klopfte prüfend gegen den Glaseinsatz. Doch das wirklich sonderbare an diesem Anblick war, dass dieser Kollege keine Hand mehr besaß, sondern einen aus massiven Silber gefertigten Haken.

„Was zum ...", flüsterte die Polizistin und verrenkte ein wenig den Hals, um einen besseren Blick auf den Spurensicherer zu erhaschen. Wer ist das? Eigentlich bildete sie sich ein, ihr Kollegium sehr gut zu kennen. Also ein Neuling?

„Margo?", sprach sie Ted vorsichtig von der Seite an und legte ihr mitfühlend eine warme Hand auf die Schulter. Seine Finger drückten sich in die Fasern des Sweaters, den sie vorhin noch geistesgegenwärtig übergestreift hatte, damit sie Ted nicht nur im Nachthemd die Haustür öffnete.

„Hey, kann ich irgendetwas für dich tun? Jemanden anrufen vielleicht?"

„Nein", antwortete Margo, etwas verärgert darüber, dass Ted sie das überhaupt fragte. Er kannte schließlich ihre prekäre familiäre Situation.

„Hör zu", meinte Ted ernst und ging neben dem Sessel in die Hocke. „Ich kann mir nicht einmal im Entferntesten vorstellen, wie grauenhaft es dir aktuell gehen muss. Und ich erspare dir natürlich unser geschultes Trauergespräch für Angehörige. Ich will nur, das du weißt, dass ich alles versuchen werde, um dir deinen Sohn zurückzubringen. Aber bitte Margo, du musst dich jetzt erstmal aus den Ermittlungen heraushalten und mir vertrauen. Kannst du das für mich tun? Bitte?"

Margo hörte dem Brünetten nur halb zu, ihre unterschiedlichen Augen hafteten immer noch interessiert an dem seltsamen Kerl von der Spurensicherung, der weiterhin am Fenster stand und eingehend die Scheibe studierte. Was genau hoffte er dort eigentlich zu finden?

Und dann passierte etwas äußerst Skurriles, was Margo kurzzeitig an ihrem gesunden Menschenverstand zweifeln lief; der Silberhaken, der so geschäftig das Glas abgeklopft hatte, schien an einer bestimmten Stelle einfach ins Glas einzutauchen. Sie beobachtete ungläubig, wie die Glasscheibe elastisch unter dem auf sie ausgeübten Druck nachzugeben schien.

Aber ... wie? Glas konnte doch nur unter Einsatz von starker Hitze formbar gemacht werden, oder nicht?

„Wer ist das?", zischte sie Ted fragend ins Ohr.

„Was? Wer?"

„Der seltsame Kerl mit der Hakenhand, da am Fenster."

Die Dunkelhaarige machte eine ruckartige Kopfbewegung und ihr einige Jahre älterer Kollege folgte dieser irritiert mit den Augen.

Lost Boy_A Neverland StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt