Kalte Nachtluft ließ die weißen Vorhänge gespenstisch flattern. Liam saß dahinter versteckt auf dem unbequemen Fensterbrett; mit angewinkelten Beinen und nackten Zehen, blickte der Zehnjährige völlig versunken auf die Lichter Londons hinab.
Würde er heute Nacht pünktlich, wenn die beiden gigantischen Zeiger des Big Ben die Zwölf berührten, auftauchen?
Er hoffte es sehr. Liams Tage waren fast durchgehend von Langeweile erfüllt, da er aufgrund seiner Krankheit ans Bett gefesselt war. Nur nachts, wenn er Besuch bekam, fühlte sich das Anheben seiner Mundwinkel weniger gekünstelt an. Dann lauschte er mit Vergnügen den fremden Abenteuern und erlaubte seiner eigenen Phantasie auf Wanderschaft zu gehen.
In diesem Moment hörte er den verlockenden Klang, der über die Dächer zu ihm hinüberschallte und schloss einen Augenblick genießerisch die Augen, spürte wie der Wind liebevoll über seine Wangen streichelte.
Ohne die Lider zu öffnen, hörte er das dumpfe Geräusch von Füßen, die direkt über ihm am geöffneten Fensterrahmen landeten.
„Guten Abend", grüßte Liam eine nur allzu vertraute Stimme und als er seine Augen aufschlug, erkannte er die Gestalt eines breit grinsenden Jungen, dessen stechend grüne Iriden schelmisch zu ihm hinunter blitzten. Er kauerte ganz entspannt auf dem weißen, abblätternden Rahmen, als wäre es absolut nichts besonders für ihn, dass er fliegend die Stadt durchkreuzte und dem ein oder anderen Kinderzimmer einen heimlichen Besuch abstattete.
„Weißt du, wie sie dich inzwischen nennen?", flüsterte Liam und in seine Stimme schlich sich Belustigung.
„Nein, wie?", fragte der fliegende Junge und beugte sich interessiert zu ihm hinunter. Er besaß ein spitzes Gesicht und katzenhafte Pupillen, die Liam manchmal, nur ganz selten, ein wenig ängstigten. Aber wie immer verwarf er diesen Gedanken schnell wieder und verzog die Lippen zu einem wissenden Lächeln. „Rattenfänger."
„Rattenfänger? Wieso das?", echote der Blonde verständnislos und legte irritiert von diesem wenig schmeichelhaften „Spitznamen" seine Stirn in tiefe Falten.
„Da gibt es diese Sage", klärte Liam ihn bereitwillig auf. „Über den Rattenfänger von Hameln. Ein Mann, der mit seiner Flötenmusik Ratten anlocken kann."
„Und was genau hat das mit mir zu tun?", fragte sein Besucher nur wenig begeistert, weshalb Liam schnell weitererzählte: „Nachdem der Flötenspieler alle Ratten aus der Stadt Hameln erfolgreich vertrieben hat, weigern sich die Bewohner der Stadt, ihm das versprochene Geld für seine Arbeit zu bezahlen. Aus Rache lockt er die Kinder der Stadt mit seiner Flötenmusik an und verschwindet mit ihnen. Kommt dir das nicht auch ein klein wenig bekannt vor?"
Sein Besucher schnaubte verächtlich. „Klingt als wäre ich der Böse in der Geschichte. Doch das ist Blödsinn, ich habe noch nie jemanden gegen seinen Willen nach Neverland verschleppt."
„Bis jetzt", erwiderte Liam süffisant. „Denn obwohl ich dir seit genau einem Mondzyklus immer wieder versichere, dass ich nicht mit dir nach Neverland reisen möchte, kommst du dennoch jede Nacht an mein Fenster zurück und versuchst mich vom Gegenteil zu überzeugen. Ganz sicher, dass du mich nicht vielleicht doch entführen willst?"
Die plötzliche von Liam heraufbeschworene unangenehme Stille legte sich wie ein schweres Tuch über ihre beiden Häupter. Als hätte jemand ein Glas über eine brennende Kerze gestülpt und würde ihr langsam beim Ersticken zusehen.
„Du wirst sterben, wenn du bleibst", zischte sein Besucher schließlich aufgebracht. „Warum willst du das nicht verstehen? In Neverland gibt es keine Krankheiten, keinen Schmerz. Es wäre deine Rettung!"
„Ich weiß", flüsterte Liam unendlich traurig zu ihm empor. „Aber ich kann nicht mitkommen. Ich kann meine Mutter nicht einfach so verlassen; es würde ihr das Herz brechen. Kannst du das wirklich nicht verstehen?"
„Nein", knurrte sein Besucher grimmig. „Kann ich nicht. Wie kann ein kaputtes Herz wichtiger sein, als dein Leben?!"
„Es tut mir leid", versicherte Liam seinem Gesprächspartner ruhig. „Aber du verlangst einfach zu viel; ich kann sie nicht verlassen. Selbst wenn es mein Leben retten würde, kann ich es nicht tun."
„Schön", zischte die Gestalt auf dem Fensterrahmen und erhob sich schwungvoll, balancierte auf den schmalen Holzspalt, bis er die Kannte erreichte und mit ihm zugedrehten Rücken auf die unzähligen Dächer Londons blickte, die ein imposanter Vollmond in sein silbrig schimmerndes Licht tauchte. „Dann halt nicht!"
Im nächsten Moment sprang er völlig angstfrei in die Tiefe, doch anstatt am Abgrund zu zerschmettern, stieg sein Besucher empor und wirbelte durch die Luft, fast als wollte er Liam verspotten, dessen Lungen ihm kaum mehr als ein paar Schritte am Tag erlaubten.
Es war nicht so, als würde Liam nicht wahnsinnig gerne mit dem berüchtigtsten Abenteurer aller Zeiten nach Neverland fliehen. Doch allein der Gedanke an den Schmerz, den er seiner Mutter damit zufügen würde, lähmte den Jungen. Es war besser, wenn sie ein Grab hatte, an dem sie ihren Sohn besuchen konnte, anstatt ein weiteres Opfer in ihrer Fallakte zu werden, mit dessen Lösung Margo Darling beauftragt wurde.
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Lost Boy_A Neverland Story
FanficIn London treibt ein mysteriöser Kindesentführer sein Unwesen, der seine Opfer nachts aus ihren Betten raubt. Detective Margo Darling setzt alles daran, den Täter zu fassen, doch es gibt kaum verwertbare Spuren. Keine Einbruchsspuren, keine Hinweise...