5. Märchen sind wahr

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Margo folgte über Stunden hinweg den verschieden stark ausgeprägten Feenstaubspuren am Himmel. Und je länger sie das tat, desto übler wurde ihr. Denn wirklich jede einzelne Spur, führte sie an den Tatort eines der verschwundenen Kinder zurück, bis die allerhellste, sie direkt bis unter Liams Kinderzimmerfenster leitete.

Das konnte sie sich doch unmöglich alles nur einbilden. So ein fantasievoller Mensch war Margo nicht, im Gegenteil, sie war überzeugte Realistin.

Glas knirschte unter ihren Schritten und der Küchenstuhl und eins seiner abgesplitterten Beine lagen noch unangetastet auf dem asphaltierten Hinterhof.

Der Abend kroch unaufhaltsam näher und sie brauchte dringend einen Plan.

Also, was wusste sie?

Dass der Entführer eine Märchengestalt aus den Geschichten ihrer Urgroßtante war, fliegen konnte und eine nur durch magische Brillengläser sichtbare Leuchtspur am Himmel hinterließ. Und sie wusste noch etwas, ein sehr entscheidendes Detail; die Kinder wurden immer nur nachts entführt.

Das hieß, sie hatte noch etwas Zeit, um sich auf die nächste Entführung vorzubereiten. Margo ging also hoch in ihre Wohnung und schlüpfte dort in bequemere und unauffällige Kleidung. Nach kurzem Zögern befestigte sie auch das Waffenholster ihrer Dienstwaffe an ihrem Körper. Es war riskant, da sie nicht im Dienst war und wenn sie die Waffe tatsächlich nutzte, um auf einen angeblichen fliegenden Tatverdächtigen zu schießen, konnte sie ihre Karriere für immer an den Nagel hängen.

Andererseits ... was spielte ihre Karriere noch für eine Rolle, wenn sie Liam vielleicht nie wiedersah?

Nein. Darüber durfte Margo nicht nachdenken, sonst würde der Schmerz sie überwältigen und sie konnte nicht mehr tun, was getan werden musste - diesem fliegenden Mistkerl das Handwerk legen und die verlorenen Kinder zurück zu ihren sie vermissenden Familien bringen.

Entschlossen band sie sich deshalb die Haare zurück und schnappte sich den Autoschlüssel vom Küchentisch.

*

Margos Entscheidung fiel auf eine Anhöhe, wo sie sich auf die Motorhaube ihres Wagens schmiegte und aufmerksam den Blick auf die leuchtende Skyline richtete, die sich vor ihr wie ein endloser Wald aus kantigen, teils verglasten Gebäudekomplexen erstreckte. Irgendwo, kam sie sich idiotisch vor – normalerweise jagte sie richtige Kriminelle und nun saß sie hier und hielt Ausschau nach einer magischen Leuchtspur am Himmel.

Doch was wäre die Alternative? Zu Hause auf ein Lebenszeichen von Liam zu warten und nebenbei völlig durchzudrehen?

Obwohl es sich einfach nur schrecklich falsch anfühlte, zuckten ihre Mundwinkel bei diesem Gedanken amüsiert.

Das Durchdrehen war doch längst passiert, jetzt gab es ohnehin kein Zurück mehr.

Und dann sah sie auf einmal einen neuen Glitzerschweif, der wie ein herabfallender Stern aus der zugezogenen Wolkendecke hervorgebrochen kam.

„Hab ich dich", hauchte Margo befriedigt, rutschte herunter und startete kurz darauf den Motor.

Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass noch ein weiteres Kind verschwand!

Sie hatte Glück, die Spur blieb weiterhin gut sichtbar, selbst als ein leichter Nieselregen einsetzte. Straßenlaternen flankierten die feuchten Straßen, dessen Licht und Umrisse sich in den umliegenden Pfützen reflektierten.

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