Ruby:
Die Fensterfront in Jacksons Büro spiegelte den Raum, sobald ich das Licht einschaltete und schloss die Nacht, die sich dahinter verbarg, aus. Ich stand direkt an der Tür, eine zitternde Hand noch immer am Lichtschalter und starrte unverwandt die Ruby mir gegenüber in der Spiegelung an. Ich sah aus wie immer, nur kleiner und irgendwie - verloren. Die Spiegelruby war aschfahl und wirkte in dem großen Raum, der vor Geld und Macht nur so protzte geradezu lächerlich unbedeutend.
Ich ging auf das Fenster zu und nach und nach zeichneten sich die Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite ab, dann die dahinter und als ich ganz vorne angekommen war, lag tief unter mir die Straße. Sie war auch jetzt noch stark befahren, die Autos fuhren geschäftig umher, immer wieder ertönte ein Hupen und in der Ferne konnte ich eine Sirene hören. Tagsüber war der Blick von hier oben schon ziemlich beeindruckend, aber nachts war es einfach überwältigend. Man hatte einen schönen Blick über die Stadt, die sich in tausend kleinen Lichtern aus der schwarzen Nacht hervorhob. Ich konzentrierte mich auf die Lichter der Autos und die winzig kleinen Fußgänger, die es so verdammt eilig zu haben schienen, denn alles war besser als an das zu denken, was gerade geschehen war. Und was hätte geschehen können.
Eigentlich war ich selbst schuld. Ich hatte gewusst wer Vernon Forbes war und was er den anderen Frauen angetan hatte. Wenn ich mich mehr beeilt hätte, oder Luis vorgeschlagen hätte, dass wir es zusammen machen - vielleicht wäre dann nichts davon passiert. Wieso hatte ich mich nicht gewehrt?
Meine Haut fühlte sich heiß an, an den Stellen die Mr. Forbes berührt hatte. Noch immer hatte ich seinen Geruch in der Nase, ein süßliches Parfüm, das vermutlich so viel gekostet hatte wie meine gesamte Garderobe, gepaart mit kaltem Zigarrenrauch und Scotch. Bevor die Panik von mir Besitz ergreifen konnte und mir die Luft abschnürte, versuchte mich zu beruhigen. Ich schluckte die Übelkeit herunter und ermahnte mich, mich zusammenreißen.
'Es ist nichts passiert, Ruby.', sagte ich mir immer wieder, denn letztendlich stimmte es. Er hatte mir nichts getan, dafür hatte Jackson gesorgt. Ich war noch einmal klimpflich davon gekommen, schon wieder. Ich hatte kein Recht zusammenzubrechen, hier in Jacksons Büro, wenn ich genau wusste, dass eigentlich nichts passiert war. Dass es andere Frauen viel schlimmer getroffen hatte. 'Es ist nichts passiert. Jackson war da.'
Hinter mir kam Jackson ins Büro. Meine Augen hoben sich ein Stück, um ihn in der Spiegelung anzusehen. Er stand in einiger Entfernung zu mir und von der Wut die er im Büro seines Onkels an den Tag gelegt hatte war nichts mehr übrig. Er hatte die Hände in den Hosentaschen verkraben, die Schultern hingen kraftlos herunter und von seiner Selbstsicherheit und Arroganz, die er normalerweise im Büro zur Schau trug, war nichts mehr zu sehen. Der Blick den er mir zuwarf war traurig und irgendwie... schuldbewusst. Dabei gab es dafür keinen Grund. Er war mein Retter. Wäre Jackson nicht rechtzeitig gekommen hätte Mr. Forbes vielleicht...
Ich wandte schnell den Blick von ihm ab, bevor meine Emotionen überhand nehmen konnten.
Es war meine Schuld, nicht seine.
Ich beobachtete meine eigenen zitterten Hände, die bebenden Lippen, die versuchten meine Gefühle unter Kontrolle zu halten und meine grauen Augen, die absolut leer aussahen.
Wie hatte das schon wieder passieren können? Das zweite Mal in so kurzer Zeit. Was stimmte nur nicht mit mir? Und was wenn ich mich beim nächsten Mal nicht rechtzeitig befreien könnte? Wenn Jackson nicht in meiner Nähe war um einzuschreiten, weil ich mich selbst nicht wehren konnte.
"Wie geht es dir?" Was für eine absurde Frage. Ich starrte eisern weiterhin mein Spiegelbild an, denn ich spürte, dass es mir nicht möglich sein würde, meine Emotionen weiterhin unter Kontrolle zu halten wenn ich ihn ansah.
"Ruby.", hörte ich Jacksons flehende Stimme hinter mir. Ich löste meinen Blick von Spiegelruby, um ihn anzusehen, zumindest durch die Spiegelung und augenblicklich wurde das Beben meiner Lippen stärker und ich spürte das verräterische Prickeln an meinen Augen, das die Tränen ankündigte.
Kurze Zeit sagte keiner von uns ein Wort. Wir starrten einander nur im Fenster an, doch ich war mir sicher, dass er meine Angst und meinen Schmerz spüren konnte. Genau so, wie ich den seinen.
"Möchtest du etwas trinken?", fragte er irgendwann in die Stille hinein. Als ich nicht antwortete lief er zur Rückseite seines Büros und öffnete den Schrank, in dem sich seine Minibar befand. Ich wusste, dass Jackson einige hochprozentige Getränke dort aufbewahrte und vermutete schon fast, dass er sich einen Drink genehmigen würde, doch dann kehrte er schon mit einer Flasche Wasser und zwei Gläsern zurück. Er stellte alles auf dem Beistelltisch an der Sitzecke ab und folgte mir ans Fenster. In der Spiegelung des Fensters konnte ich sehen, dass er genau hinter mir stand. Es fehlte nur ein Schritt, um ihn zu berühren. Ein Schritt, um meinen Schmerz mit ihm zu teilen und ihm endlich wieder nah zu sein. Ein Schritt, um die unsichtbare Mauer, die sich in den letzten Wochen zwischen uns aufgebaut hatte einzureißen. Ich suchte Jacksons Augen in der Spiegelung und als ich sie gefunden hatte wusste ich, dass wir dasselbe dachten.
Plötzlich schien mir der Abstand zwischen uns unerträglich.
Ich machte einen Schritt zurück, lehnte mich vorsichtig an ihn an und befürchtete schon fast, er würde zurückweichen, doch nichts dergleichen geschah. Jackson verspannte sich kurz, doch dann zog er mich an sich. Er atmete den Duft meiner Haare ein und hielt mich mit der linken Hand an der Taille. Mit der rechten Hand suchte er meine Hand und drückte leicht, als unsere Finger sich verschränkten.
Mehr brauchte es nicht, um meinen Schutzschild zu durchbrechen. Ich konnte die Tränen nicht mehr länger aufhalten und so ließ ich ihnen freien Lauf.
"Wir sollten nach Hause gehen Ruby.", hörte ich Jacksons raue Stimme hinter mir.
Ich wusste nicht wie lange wir schon so vor der Fensterfront standen, Jacksons Arme um mich geschlungen, meine Hände umklammerten sie wie einen Rettungsring. Als wären sie das einzige das mich vor dem Ertrinken bewahrte. Und irgendwie waren sie das doch auch, oder nicht?
"J-ja okay." Meine Stimme hörte sich an wie die einer Fremden. Ich räusperte mich, doch ich wusste ohnehin nicht, was ich noch sagen sollte, also schwieg ich.
Wenn ich später an diesen Abend zurück dachte, fühlte er sich an wie im Nebel. Ich erinnerte mich grob daran, dass Jackson unsere Sachen zusammengesucht und mich zu seinem Auto dirigiert hatte. Dass er meine Hand hielt während wir nach Hause fuhren und wie er mich nach oben brachte und mir ein Bad einließ. Die ganze Zeit über hatte ich ihn einfach gewähren lassen. Ich vertraute Jackson bedingungslos und wusste, dass mir niemals etwas passieren würde, solange er bei mir war. Ich hatte an diesem Abend keine Kraft mehr gehabt, sondern einfach in einem tranceähnlichen Zustand funktioniert.
Aber immerhin eine gute Sache hatte dieser Abend, der auf eine ironische Art meinem Zusammenbruch kurz nach der Abschlussfeier glich, gebracht. Denn obwohl es ein fürchterliches Erlebnis für mich war und mein Misstrauen gegenüber Männern nur noch mehr stärkte, obwohl Jackson in den letzten Wochen alles daran gesetzt hatte mir aus dem Weg zu gehen und obwohl ich eigentlich unfassbar wütend und verletzt gewesen war, war es genau dieses Erlebnis, das mir meine Freundschaft mit Jackson zurückschenkte.
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Little One
ChickLitRuby hat gerade die Schule beendet. Seit ihre Eltern bei einem Unfall starben wohnt sie bei ihrem älteren Bruder Daniel und dessen Freunden Josh und Jackson, in den sie heimlich verliebt ist. Als Jackson sie bittet für ihn zu arbeiten, beginnt Rubys...