1. Schockzustand

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Dag

Als ich mitten in der Nacht etwas klarer denken konnte, war mir richtig schlecht. So schlecht, das ich mich öfter übergeben musste. Nach einem erneuten Blackout und ohne zu wissen wie ich dahin gekommen war, fand ich mich plötzlich mit einer Schwester im Badezimmer wieder. Ich saß auf dem Klodeckel und zitterte am ganzen Körper, während sie versuchte mich etwas zu säubern. 

"Keine Sorge, Herr Kopplin. Sie haben gerade erst eine schwere OP hinter sich. Das kann passieren" 

"Ich... ich hab Gedächtnislücken..." 

Die Schwester kniete sich zu mir runter, sodass wir auf Augenhöhe waren und legte ihre Hände vorsichtig auf meine Knie. "Die Charite ist die beste Klinik in ganz Berlin und der Arzt hat sie vor der Operation nochmal gründlich durchgecheckt. Es gibt nichts, was uns Sorgen bereiten würde" Ich nickte leicht. "Außerdem hab ich vor etwa einer Stunde die Blutwerte bekommen. Ihr Blut weist eine hohe Dosis Diazepam auf"

"Diazepam?"

"Das ist ein Wirkstoff aus der Gruppe der Benzodiazepine wie Valium. Diazepam ist ein psychoaktiv wirkender Arzneistoff. Das heißt..." Sie tippte mir vorsichtig auf die Stirn. "...es beeinflusst die neuronalen Abläufe im Gehirn. Die Nervenbahnen, die bestimmte Reize weiterleiten. Es verändert also aktiv die psychische Verfassung und lindert Erregungszustände wie Angst und Anspannung, ist aber auch schlaffördernd. Jedenfalls wenn man es richtig anwendet, denn normalerweise wird es nur kurzzeitig in akuten Situationen verabreicht. Panikattacken zum Beispiel. Wenn man es überdosiert jedoch, kommt es häufig zu Gangstörungen, Übelkeit, Müdigkeit aber auch Gedächtnislücken" 

Ich erinnerte mich an die wenigen Sachen die ich noch wusste. Erst bin ich noch selber gelaufen, doch dann wurde ich plötzlich nur noch getragen. Hatte ich Gangstörungen? Konnte ich deshalb nicht mehr aus eigener Kraft weiter laufen?

"Diazepam hält zwischen 20 und 50 Stunden. Es kann daher noch etwas dauern bis das Gehirn wieder seinen Normalzustand erreicht"

Irgendwie fühlte ich mich unwohl. Nicht zu wissen was in der Zeit in der ich mich an nichts erinnerte passierte. machte mir Angst. Außerdem waren alle meine Sachen versaut und ich musste diesen grässlichen Krankenhausfummel tragen.

"Kann ich Vincent anrufen?" Sofort schossen mir die Tränen in die Augen. Verdammt. Ich vermisste Vincent. Keine Ahnung wann ich ihn das letzte mal gesehen hatte. 

Das nächste was mich wieder zurück in mein Bewusstsein brachte war sein Geruch. Diese Mischung aus Kaffee, Schweiß und irgendeinem teuren Parfüm welches ich schon immer hasste. Ich saß im Bett und Vincent drückte mich sanft. Eigentlich wollte ihn auch umarmen aber ich war wie gelähmt. Warum? Machten die Medikamente das mit mir? Nein, nein, nein. Da ist was anderes. 

Angst. Ich hatte Angst. Mein Herz hämmerte so stark das es schon weh tat. Es fühlte sich gut an, doch so furchbar zugleich. Erst als er mich nach einer quälenden Ewigkeit los ließ, konnte ich durchatmen. Aber nur kurz, denn er griff mit beiden Händen mein Gesicht und drückte das Kinn hoch, bis ich ihn ansah. 

"Dag? Wollen wir dich umziehen?"

In mir drinnen brannte ein Feuer. Ich wollte nicht von ihm angefasst werden. Oder wollte ich es doch? Er streichelte sanft mit den Fingern über meinen Kiefer. Das war zu viel. Zu viel. Zu viel. Zu viel. Ich will das es aufhört. Ich will das ER aufhört. 

Die Panik überrannte mich so schnell und so stark, das ich gar keine Kontrolle mehr über mich hatte. Wie in Zeitlupe ballte ich die Faust, holte aus und schlug in Vincents Gesicht. Ich war noch nie handgreiflich geworden. Das schwöre ich. Und ich bereute es auch sofort. Völlig überrascht ließ Vincent sofort von mir ab. Seine Augen waren weit aufgerissen. Blut lief ihm aus Nase und der Lippe. Wie ein getroffener Boxer taumelte er zwei Schritte zurück und kippte dann nach hinten weg. Sein Kopf schlug noch hart auf den Boden auf und dann war da diese quälende Stille. 

Geschockt guckte ich zu Vincent runter. Er lag auf dem Boden und bewegte sich nicht mehr. Blut tropfte von seiner Nase auf den Boden. "Vincent?" Meine Stimme war nicht mehr als ein piepsen. 

Erst nach mehr als einer Minute konnte ich mich aus meiner starre befreien und den Notrufknopf drückten. Da Vincent schon fast vor der Tür lag, stolperte die Schwester beinah über ihn. Ich sah wie sie mit mir redete, aber ich verstand sie nicht. 

Sie holte das Stationstelefon und schneller als ich gucken konnte waren sechs Leute in meinem Zimmer. Drei davon gingen sofort zu mir uns packten mich. Ich bekam nur noch mehr Angst. Um mich schlagend wurde ich zurück in mein Bett gedrückt. In meinen Ohren rauschte es so laut das ich kaum etwas verstehen konnte. 

"...medikamentenbedingte psychose?..."

Schneller als ich gucken konnte, wurden meine Arme in zwei Schlaufen gedrückt. Eine unten am Handgelenk und die andere oben am Oberarm. Ein Arzt zog beide Schlaufen fest sodass verhindert wurde das ich weiter um mich schlagen konnte. Erst als beide Arme fixiert waren, ließen sie mich los. Ich fühlte mich unwohl. 

Erst als ich irgendein Medikament bekommen hatte, ging es mir langsam besser. Meine Muskeln entspannten sich. Mein Kopf wurde leer. Ich war ganz schön kaputt, daher schloss ich etwas die Augen. 

Keine Ahnung wie lange ich geschlafen hatte, aber als ich Augen wieder öffnete, saß Vincent wieder neben mir. Ein großes Pflaster zierte seine Nase und sein Auge war blau. Trotzdem fuhr er mir sanft durch die Haare und ich genoss es. Seine Finger wanderten zärtlich über die Linie meines Kinns. "Ich bin dir nicht böse. Es tut mir leid... Ich hätte dich nicht einfach so anfassen dürfen obwohl ich gemerkt habe das du total verkrampft bist"

"Bitte bleib hier"

"Ich geh nicht weg. Alles gut"

"Es tut mir leid"

"Muss es nicht. Du hast viel durchgemacht die letzten Tage. Es wir Zeit, das wir zur Ruhe kommen"

Da ich meine Arme wieder uneingeschränkt bewegen konnte, zog ich Vincent sanft in meine Arme. "Tut mir leid ich... ich hab Angst bekommen weil... keine Ahnung... ich wollte das nicht, aber ich konnte mich nicht wehren"

"Wie gesagt. Ist okay. Mir tut es leid"

Vincent zog mich eng in seine Arme und drückte mich sanft. Für einen kleinen Augenblick, war die Welt wieder ziemlich in Ordnung. 

Die Hydra der Vergangenheit [Abgeschlossen]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt