2. Zurückhaltung

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"Ich hab dir neue Sachen mitgebracht. Darf ich dir die anziehen?" Vincents friedliche Stimme holte mich ins hier und jetzt zurück. Etwas verkrampft und unsicher, hob ich meinen Blick und musterte ihn eine Weile. Nach inzwischen über zwanzig Jahren Freundschaft, war ich für Vincent ein offenes Buch geworden. Mimik, Gestik, der Ton meiner Stimme, schon eins dieser Dinge reichte ihm. Wie in diesem Augenblick, denn seine Körpersprache passte sich meinem Befinden an. Vincents Gesichtszüge wurden weicher, seine Haltung gelassener. "Hmmm. Ich hab eine Idee. Ich hol dir erstmal was zum naschen aus dem Automaten und dann ziehe ich dich um. Was hältst du davon?"

"Okay"

Als Vincent kaum hörbar das Zimmer verlassen hatte, erdrückte mich die Einsamkeit plötzlich. Sie schlich sich tief aus meinem Unterbewusstsein heraus an, legte ihre eiskalten Klauen um meine Kehle und drückte die langen, spitzen Fingernägel in meine Haut. Die monströse Fratze grinste hämisch, während sie den Griff um meinen Hals stück für stück verstärkte. Mein Schrei nach Hilfe, blieb mir sofort im Rachen stecken. Ich war paralysiert vor Angst.

Erst als Vincent die Türklinke endlich nach unten drückte, verschwand dieses Gefühl genauso schnell wie es gekommen war. Sofort zog ich die stickige Luft so tief in meine Lungen, das es kurz schmerzte. "Alles okay? Soll ich kurz das Fenster öffnen?" Vincent eilte zur Fensterfront am anderen Ende des Raumes, drehte den Griff des größten Fensters nach oben und kippte es nach innen. "Bitte sag beim nächsten mal, bescheid. Es ist echt drückend hier drinnen. Möchtest du auch was trinken?"

Aufmerksam reichte er mir einen Snickers. Ich hatte keine Ahnung warum mir wieder die Tränen kamen, jedenfalls starrte ich den Riegel aus Schokolade und Nuss an und flennte. "Ich dachte du magst Snickers... oder nicht? Tut mir leid ich..."

"Ich liebe die" Ich ließ Vincent erst gar nicht aussprechen, schnappte mit die Kalorienbombe und riss das Papier auf. "Das verstehe ich jetzt nicht. Wenn du die magst, wieso weinst du dann?"

"Ich... bin einfach froh dich zu haben" Vinnes Augen weiteten sich. Überrascht musterte er mich eine Weile und lächelte dann. "Ich dich auch Dag" Ich sah wie Vincents Muskeln sich kurz anspannten, bereit mich gleich zu umarmen, bis er sich jedoch eines besseren besinnte und erneut zurücklehnte. 


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Wegen meines Armes, war ich gezwungen noch eine ganze Woche in der Charite auszuharren. Zwar besuchte mich Vincent soweit es ihm möglich war jeden Tag, allerdings war die Atmosphäre zwischen uns beiden nach dem Vorfall eine gänzlich andere. Wir waren keine besten Freunde mehr. Keine erwachsen gewordenen Punks die ihr halbes Leben miteinander verbracht haben, wir waren... Arbeitskollegen. Bekannte, die sich nur aus Höflichkeit besuchten um eine alberne Karte mitzubringen. Da war keine Umarmung mehr. Kein herumalbern. Keine Sticheleien. Wir... führten Smalltalk. Zudem schwiegen den eigentlichen Vorfall tot. 

Und wenn Vincent doch mal versuchte etwas mehr Nähe aufzubauen, dann ertrug ich es nicht. Ich hatte keine Ahnung woher die Abneigung ihm gegenüber kam. Manchmal sogar, erwischte ich mich dabei wie ich mir wünschte, das er am nächsten Tag nie wieder kommt. Es wäre mir egal gewesen. ER wäre mir egal gewesen. Und das ließ ich ihn unbewusst spüren.

Ich trieb den unsichtbaren Keil immer tiefer und tiefer zwischen uns doch... er kam immer wieder. Im nachhinein betrachtet, behandelte ich Vincent wie ein richtiges Arschloch. Hätte ich damals schon gewusst, was der Grund dafür ist, dann hätte ich schon viel früher die Notbremse gezogen. Doch jetzt... zog ich uns beide immer tiefer und tiefer in den Abgrund. Ich brauchte Vincent nicht mal ziehen. Er folgte mir freiwillig in die tiefsten und dunkelsten Ecken meiner Psyche. Um mich nicht alleine zu lassen. Ungeachtet dessen, was das alles mit seiner Psyche machte. 

Meine Emotionen hatte ich noch weniger im Griff als vorher. Jeder kleinste Anlass, ließ mich explodieren. Als Vincent mir heute eine Tafel Schokolade mitbrachte, tickte ich auch. Ich nahm die Kakao haltige Süßigkeit und warf sie nahm ihm. "WIESO KOMMST DU IMMER WIEDER? HAU AB! LASS MICH IN RUHE! ICH WILL DICH NIE WIEDER SEHEN!"

"Dag, ich..."

"NEIN. DAS IST ALLES DEINE SCHULD! HÄTTEST DU DAMALS NICHT AUFGELEGT DANN WÄHRE DAS ALLES ÜBERHAUPT NICHT PASSIERT!" Eigentlich wusste ich dass, das nicht stimmte aber ich musste einfach irgendwem die Schuld geben. Lotte konnte ich nicht anschreien. Und Thomas war nicht hier, also bekam Vincent meinen ganzen Frust, meine Wut, die Hilflosigkeit und meine Scharm darüber ab, ausgeliefert gewesen zu sein, nicht mehr zu wissen was in der Zeit zwischen den Blackouts passiert ist. 

Es war nicht das erste mal das ich Vincent hier so anbrüllte. Sofort zog Vinne den Kopf etwas ein und versuchte mit seinen Armen zu beschwichtigen aber das machte mich nur noch wütender. Wieso konnte er nicht stark bleiben? Warum gab er mir nicht das Gefühl das er mich beschützte? Aus welchem Grund sagte er mir nicht wann Schluss ist? 

"DU BIST EIN FEIGLING VINCENT STEIN. DU HAST NICHTS UNTERNOMMEN UM MICH DARAUS ZU HOLEN. DU BIST WIE EIN WEICHEI ZUR POLIZEI GERANNT UND HAST NUR GEHOFFT DAS NICHTS SCHIEF GEHT. DU HAST MEIN LEBEN AUFS SPIEL GESETZT, NUR DAMIT DU DICH SELBER UM NICHTS KÜMMERN MUSST. UND WÄRE ICH DRAUF GEGANGEN, DANN HÄTTEST DU BEHAUPTET ALLES GETAN ZU HABEN UM MICH ZU RETTEN. UND WEIẞT DU WARUM? DAMIT DU AM ENDE ALS HELD DASTEHST. WEIL DU NICHT DIE EIER GEHABT HÄTTEST, DIR DEINE FEHLER EINZUGESTEHEN.  DU HÄTTEST NICHT MAL GEMERKT DAS ICH WEG GEWESEN WÄRE, WENN THOMAS DIR DAS NICHT GESAGT HÄTTE. WEIẞT DU WIE MAN LEUTE WIE DICH NENNT? EINEN GANZ MIESEN FREUND!"

Ich sah sofort das ich übertrieben hatte. Vincent starrte mich mit aufgerissenen Augen an. Und dann passierte das, von dem ich nie gehofft hatte, das es jemals passieren würde. Vincents Lippe fing an zu zittern und in seinen Augen sammelten sich Tränen. Verdammt. Ich hatte Vincent zum heulen gebracht. Und diesmal nicht weil mein Witz so gut war, das er viel zu doll lachen musste. Das war... pure Traurigkeit und... Schmerz. 

Hektisch wischte sich Vincent mit seinem Ärmel über das Gesicht, doch seine Tränen flossen immer mehr die Wangen runter, sammelten sich am Kinn und tropften zu Boden. Plitsch. Platsch. Plitsch. Platsch. Die traurigste Sinfonie die ich jemals hören werde... 

Die Hydra der Vergangenheit [Abgeschlossen]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt