9. Zusammenhalt

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Vincent

Unsere Stimmen verstummten, genauso wie sie zusammen erklungen waren. Dag und ich guckten uns das erste mal seit vier Monaten in die Augen.

"Nein, mir tut es leid!" / "Nein, mir tut es leid!"

Dags Psychologin guckte zwischen uns beiden hin und her. "Ihr seid auf jeden Fall auf dem richtigen Weg. Ich würde es damit heute dann auch erstmal belassen. Wir können und wollen auch nicht alles auf einmal besprechen" Ich nickte kurz und Dag schwieg. Nervös fummelte er an seiner Kleidung rum. Ich nahm all meinen Mut zusammen und holte tief Luft. "Soll ich dich nach Hause fahren?"

Mein ehemals bester Freund hielt kurz inne und schien nachzudenken. "Schafft ihr beide das den? Vincent? Dag? Es ist auch okay, wenn du das noch nicht willst, Dag"

"Nein, ich... ich bekomme das hin" Irgendwie freute ich mich. Ich hatte den kleinen echt vermisst. Egal wie sauer oder verletzt ich war. Es fehlte immer ein Teil von mir. Er. 

Schweigend verließen wir, zusammen, die Praxis und trotteten zu meinem BMW. Ich traute mich nicht irgendwas zu sagen. Eigentlich hatte ich Dag so viel zu erzählen aber ich war unsicher, ob er das überhaupt hören möchte. Vielleicht war es ihm auch lieber wenn ich ihm einfach nur zuhörte. Ich kramte den Autoschlüssel aus meiner Tasche, drückte auf die Fernbedienung und mit einem kurzen aufblinken der Lichter, gab das Auto uns zu verstehen das es nun geöffnet war. Dag nahm auf dem Beifahrersitz platz und schnallte sich, fast schon schüchtern, an. 

Ich gesellte mich zu ihm, nur hinter dem Steuer. Als ich den Schlüssel in das Schloss stecken wollte zögerte ich. Wohnte Dag überhaupt noch da wo er früher gewohnt hatte? Vier Monate waren eine lange Zeit, da kann so viel passiert sein. "Wohnst du noch in Spandau?"

"Hm"

"Gleiche Adresse?"

"Hm"

"Okay" Endlich steckte ich den Schlüssel ins Lenkrad und startete den Wagen. Am besten nahm ich die Abkürzung über die Schnellstraße. Nicht das ich Dag so schnell wie möglich los werden wollte. Ich mochte es einfach nicht, das er länger als nötig warten musste bis er Zuhause war. Außerdem war die Schnellstraße näher dran und nie so voll wie die Innenstadt. 

Auf dem Schnellweg angekommen, bemerkte ich einen auffälligen, blauen Porsche hinter mir, der immer wieder die Lichthupe betätige. "Was will der? Blitzer?"

"Ich seh nix" Dag beugte sich etwas nach vorne und guckte, durch die Frontscheibe, in die Ferne. "Komisch" Unbeirrt fuhr ich weiter. "Vincent, er fährt immer weiter auf"

"Er drängelt!" Ich versuchte ruhig zu bleiben und nicht in Panik zu geraten, doch sein drängeln wurde immer aggressiver, der Abstand immer kleiner. "Scheiße! Ist der Wahnsinnig?" Langsam verlor ich doch die Fassung. Wenig später hörte ich wie er mir, hinten links, rein fuhr während er versuchte auf die Überholspur zu wechseln. Aus Reflex zog ich meinen BMW nach links und traf mit den beiden rechten Reifen einen Grünstreifen. Der Wagen hatte auf dem Rasen nicht mehr so gut Grip und fing an zu schlingern. Ohne nachzudenken, lenkte ich diesmal nach links doch der Wagen verlor den Halt und drehte sich einmal um die eigene Achsen, nur um dann auf einen kleinen Abhang aufzusetzen. Das Gewicht des BMWs verlagerte sich zu weit nach rechts und ich merkte wie meine Seite von der Fahrbahn abhob. In einem letzten Versuch irgendwas zu retten, drückte ich weiter auf die Bremse, nahm die Hände vom Lenkrad und drückte sie gekreuzt vor die Brust um mir nichts zu brechen. 

"VINCENT!" Mein Auto drehte sich aufs Dach, schlitterte weitere 2 Meter über den Rasen und wurde mit einem lauten Knall von einer Baumgruppe gestoppt. In meinen Ohren piepte alles und ich wusste nicht mehr wo oben oder unten war. Erst als das pfeifen aufhörte, konnte ich wieder klar denken und guckte als erstes zu Dag rüber. Er hing leblos in seinem Gurt. "Scheiße!" Mir zitternden Händen schnallte ich mich ab und fiel unsanft aufs Dach. Mit viel Mühe öffnete ich meine Tür und kroch ins freie. Ich dachte nicht mal darüber nach, ob ich ebenfalls verletzt sein könnte. Taumelnd umrundete ich den Schrotthaufen und musste mich ziemlich anstrengen, Dags Tür auf zu bekommen. Kurz dachte ich darüber nach wie ich ihn möglichst sanft aus seinen Sitz holen sollte, doch mir blieb einfach nichts anderes übrig, als ihn abzuschnallen. Ich legte eine Hand auf Dags Brust und versuchte ihn irgendwie aufzufangen als der Gurt sich löste doch das klappte nur so halbherzig. 

Mit letzter Kraft zog ich Dag aus dem Auto und legte ihn ins Graß. Langsam wurde mich auch schwindelig und ich musste mich setzen. Völlig neben der Spur musterte ich keuchend erst Dag und dann mein Auto. Meine Sicht war schon total verschwommen, trotzdem kümmerte ich mich ferngesteuert um Dag. Er musste in die stabile Seitenlage. Zum Glück wusste ich genau wie das ging, also drehte ich ihn fachgerecht auf die Seite. Erschöpft ließ ich mich ins Graß fallen und schloss die Augen. Kurz... nur kurz... 

"...Verkehrsunfall mit zweifachem Personenschaden..."

Wo? Hier?

"...Puls schwach..."

Sterbe ich? Bin ich schon tot?

"...die Vitalwerte im Auge behalten..."

Vital...was? Was für Werte?

"...können sie mich hören?"

Ich bin nicht taub.

"...das der Fahrer des Wagens?"

Dag hat keinen Führerschein.

"...Auf 3! ...1...2..."

Ich falle. Ich glaube ich falle.

"Patient kommt langsam zu sich..."


Als ich die Augen leicht öffne, will ich die Arme heben aber ich kann nicht. Irgendwas hält mich zurück. Ich lasse meinen Kopf zur Seite fallen und sehe zwei Gurte die mich an eine Trage sichern. "Dag?"

"Ist das ihr Name? Sind sie Dag-Alexis Kopplin?" Eine Sanitäterin hielt etwas kleines, viereckiges in der Hand aber mein Gehirn wollte nicht verarbeiten was genau das ist. Erst im Nachhinein verstand ich, das es Dags Ausweis war. Wahrscheinlich hatten sie ihn irgendwo im Auto oder im Graß gefunden. "Ja!" Mein Gehirn war total matsch und ich bekam die ganze Situation gar nicht richtig zusammen. "Okay Herr Kopplin. Sind sie der Fahrer des Unfallwagens?"
"Ja"
"Wissen sie wo ihr Führerschein ist?"
"Ich hab keinen"
Die Sanitäterin drehte sich zu ihrem Kollegen um und senkte die Stimme. "Daniel? Kannst du kurz zu den Polizisten gehen und ihnen sagen das der Fahrer des Wagens keinen Führerschein hat? Es überrascht mich nicht das der BMW von der Fahrbahn abgekommen ist"

Die Hydra der Vergangenheit [Abgeschlossen]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt