cotard ✝{h.s} // chapitré cinque
Es waren vier Stunden vergangen. Dieses Waisenhaus war seit meiner Aufnahme noch nie so still gewesen. Fast alleine saß ich im Saal und starrte aus dem Fenster hinaus. Ich fing an meine Tat zu bereuen, denn ich hätte dort sein sollen. Ich hätte in das Krankenhaus gehen müssen.
Zwanzig Mädchen und eine Handvoll Jungen hatten das Waisenhaus verlassen, um Harry zu besuchen, mir war bewusst das viele Mädchen das nicht aus Übereinkunft und Menschenliebe taten, sondern weil sie bei Harry eine Art Interesse wecken wollten. Doch alleine der Gedanke daran, löste in mir eine Unzufriedenheit aus. Harry war wahrscheinlich noch beeinträchtigt aufgrund seiner Operation und der Narkose die ihn lahm legte, jetzt musste er mit aufdringlichen Mädchen aus seinem Waisenhaus klarkommen und mit Prudence, die sich andauernd Vorwürfe machte, dass sie der Grund für seinen Zusammenbruch war.
Maya kam in den Raum, suchte sich einen Platz und erkannte mich am Ende der Tischreihen. Sie huschte mit ihrem Tablett in der Hand zu mir und setzte sich gegenüber von mir. Sie war die einzige Betreuerin noch im Hause, alle anderen waren in das Krankenhaus gefahren.
»Wieso bist du nicht mitgefahren Noelle? Abwechslung täte doch mal gut« kommentierte sie, während ihre Hände das Tablett abstellten und ihre Augen meine trafen. Lächelnd schüttelte ich den Kopf, nahm mein Glas in die Hand und legte es an meine Lippen. Ich wollte nicht darüber reden, aber wollte auch nicht das Maya merkte, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich schindete Zeit, indem ich gezwungenermaßen das Wasser trank.
»Prudence hat vor einer Stunde angerufen, die Operation ist gut verlaufen, nur bekommen sie Harold nicht wirklich zum Sprechen« Die Nudeln auf ihrem Teller landeten schnell in ihrem Mund und die Kaubewegungen umrandeten ihr fülliges Gesicht.
Ich nickte etwas.
»Typisch« meinte ich. Ich setzte vorsichtig mein Glas ab, richtete mich auf, seufzte etwas und fuhr mir durch meine Haare. Mir war klar das ich einen desinteressierten Anblick von mir gab, doch ich war alles andere als das. Das Verlangen im Krankenhaus zu sein, ihn vielleicht auch sehen zu können war groß, doch ich schluckte es hinunter, widmete mich der Tatsache, dass es ihn bestimmt nicht interessierte ob ich anwesend war oder nicht. Vielleicht war er immer noch unter der Wirkung der Anästhesie, also wäre es auch nicht wirklich von Unterschied wenn ich dort kauerte oder eben hier.
»Ist alles okay Noelle?« Stirnrunzelnd schob Maya sich eine weitere Portion ihres Mittagessens in den Mund, nachdem sie meine Fassade registriert hatte. Schnell nickte ich, stand auf und nahm mein Glas in die Hand, ich entschuldigte mich, gab mein Glas vorne an der Küche ab und lief aus dem Saal. Nun nahm ich mehrere Stimmen wahr, also lief ich an den Eingang der Institution und ließ meine Vermutung bestätigen. Sie waren zurück. Als ob dieser Besuch an allen vorbei gegangen wäre, lachten sie und tauschten sich lautstark aus, damit sie einen Teil dieser Gesellschaft wurden. Diese Gesellschaft die von mir verhasst wurde, denn nichts hier in diesem Waisenhaus wurde aus Nächstenliebe gemacht, nein, es ging nur darum anderen hier das Leben zur Hölle zu machen.
Nate hatte seine Arme um zwei Mädchen gelegt und kam die Treppen hoch, während ich rätselte aus welchem Grund er den Drang hatte Harry zu besuchen. Harry verabscheute ihn und Nate hegte auch keine besonders guten Gefühle zu Harry.
Ich machte mir keine Mühe ihn nett anzusehen und er dachte wahrscheinlich dasselbe, denn seine Miene war äußerst unfreundlich auf meine gerichtet. Eines seiner Mädchen rempelte mich an und ich inhalierte tief Luft, um nicht mit ihr in eine Diskussion zu geraten. Während alle ihre Jacken auszogen, die Mädchen unter uns somit ihr Dekolleté offenbarten, schenkte ich Prudence einen kurzen Blick und hufte mich dann die Stufen hoch, suchte den Weg in mein Zimmer. Es war wie als ob ich die Rolle von Harry übernahm, plötzlich verstand ich warum er nicht sprach und warum er so wenig aß. Ich verstand warum er kaum Freunde hatte und immer mit der gleichgültigen Mimik an Menschen vorbeilief. Ich verstand warum er schnell aus der Fassung gebracht werden konnte.
Menschen waren narzisstisch. Darum.
-
Später am Abend wurden wir alle in den Aufenthaltsraum gerufen, der sonst abgeschlossen war und nur geöffnet wurde, wenn Familien zur Adoption kamen. Er war groß und wunderschön, lenkte etwas von der grausamen Wirklichkeit ab, dass wir Kinder waren, die keine Eltern hatten. Oder ungewollte Kinder, die definitiv Eltern hatten. Eltern ohne Gewissen.
»Sind alle da?« wollte Prudence wissen und schrie über unsere Köpfe, ich saß neben zwei Mädchen die sich andauernd gegenseitig in die Ohren flüsterten und dann kicherten. Ich beobachtete alle und seufzte. Es war ein Fehler aus meinem Zimmer zu kommen.
Nachdem Prudence die Bestätigung hatte, das auch wirklich jeder seinen Platz eingenommen hatte, fing sie an mit ihrer Rede.
»Ihr wisst alle das wir tiefe Trauer tragen, weil Harry sich gerade in einer schlechten Lage befindet und damit wir es ihm gerecht machen können wenn er da ist, wollen wir als Institution eine Feier für ihn organisieren« ihre heisere Stimme machte nur darauf aufmerksam, dass sie im Krankenhaus jeden mindestens zehn Mal ermahnen musste leise zu sein. Ich verdrückte mir das Grinsen, sah zu Prudence und wartete bis sie fortfuhr.
»Wir backen Kuchen und hören Musik, schauen Filme. Es wird ein schöner Tag werden und wenn ihr wollt, könnt ihr ihm sogar eine größere Freude machen, indem ihr einfach mit ihm redet und vielleicht etwas bastelt.«
Skeptisch sah ich der Betreuerin entgegen, sparte mir meine Kommentare und sah der Prozedur zu. Viele Mädchen waren aufgestanden und trugen sich für ein paar organisatorische Aufgaben ein, während ich still dasaß und als Publikum die Masse beobachtete. Es machte Spaß zu sehen, wie sich Mädchen stritten und zankten. Amüsiert wartete ich darauf bis die ersten Tränen kullerten, doch ich wurde radikal aus meinen Gedanken gerissen, als ich eine etwas stärkere Hand auf meiner Schulter spürte. Ich fuhr auf, sah hoch und bemerkte wie Nate mich angrinste, der Ekel stieg in mir hoch, sodass ich aufstand und ihn angewidert ansah.
»Da du dich nicht einträgst, gehe ich davon aus du und Harry habt immer noch eine Beziehungskrise« parlierte er. Seine kantigen Zähne betonten sein Lachen, gespielt fuhr er sich unter die Augen, um mir zu übermitteln, dass er seine Aussage äußerst lustig fand.
»Wieso kümmerst du dich nicht um deine Schlampen die dort hinten auf dich warten?« wollte ich wissen, doch gab ihm keine Gelegenheit zu antworten. »Ach ja richtig. Sie sind viel zu beschäftigt, um nachzudenken, welche Unterwäsche sie tragen werden, wenn Harry wieder entlassen wird« mit meinem sarkastischen Unterton würgte ich ihm eine rein, lief an ihm vorbei und merkte wie viele nach dem Unterschreiben der Listen den Raum verließen. Auch Nate war mittlerweile nach meiner Abfuhr hinausgegangen, mit mir waren nur noch ein paar andere Mädchen im Aufenthaltssaal und die Betreuerinnen Maya und Prudence.
Ich lauschte dem Gespräch der beiden und sogar sie schienen in einen Konflikt geraten zu sein.
»Ich werde definitiv nicht die Mutter kontaktieren« weigerte sich Maya und ich hob die Augenbrauen. Von wem sprachen sie?
»Sie hat ein Recht zu wissen, wie es ihrem Sohn geht.«
»Wir wissen nicht einmal ob sie noch am Leben ist. Außerdem hat sie keine Information dagelassen Prudence das wissen sie, wenn sie sich für ihn interessiert hätte, dann hätte sie ihn in den letzten zwanzig Jahren besucht« verteidigte sich Maya und stemmte ihre Arme gegen ihre Brust.
Sie sprachen von Harry.
Von seiner Mutter.
»Sie wollen auch bestimmt nicht das Risiko eingehen, dass Harry nicht damit einverstanden ist. Wer will denn schon mit der Mutter sprechen? Wenn sie mich oder Sie sieht, wird die Mutter sofort ablehnen. Sie wird sich bedrängt fühlen.«
Prudence seufzte auf.
»Dann brauchen wir jemand anderen..«
Ich setzte einen Schritt auf Prudence zu.
»Ich kann mit ihr sprechen« kam aus mir.
Maya drehte ihren Kopf in meine Richtung, sah dann zu Prudence und schloss kurz die Augen. Wenn ich etwas für Harry tun könnte, dann wäre es das hier.
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cotard
Mystery / Thrillercotard; délire des négations Nihilistischer Wahn, Überzeugung davon tot zu sein und nicht zu existieren. a/n: grafische darstellungen von gewalt, sexualität, starke sprache und/oder anderen reifen themen © ifckedurmanperrie, 2015