²⁴ nachtschicht

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Ich ging durch die Stationstür.
Ich hatte mich in letzter Sekunde als zusätzliche Nachtschichthilfe gemeldet.
Schlafen war heute wahrscheinlich erst Mal nicht drin.
Mir war auch echt nicht wohl dabei, Taras alleine zuhause zu lassen.
Wir hatten vor ein paar Stunden ein langes Gespräch und er hatte eine riesen Angst um Adam.
Er hatte mich gefragt, ob ich auf Adam aufpassen könnte, und ich hatte ja gesagt, also war ich jetzt hier.
Ich ging in das Büro.
"Kann ich die Bezugsperson für den neuen sein?", fragte ich Mina, eine meiner Kolleginnen.
"Wieso? Stehst du auf den oder was?"
"Nein, aber ich kenne ihn. Bei mir fühlt er sich wahrscheinlich sicherer als bei dir oder so."
"Du kennst den? Der ist süchtig nach Heroin und so."
"Hab' ich erst heute erfahren. Ich bin sozusagen der Grund, warum er hier ist, aber sag ihm das nicht."
"Okay, ja, passt."
"Wo ist er gerade?"
"Hinten, in seinem Zimmer, er ist in einem mit Maik."
Ich nickte.
"Ich schau' mal nach ihm."
Ich ging auf die Geschlossene, in das Zimmer von Maik.
Maik war hier schon seit einer halben Ewigkeit, seit sieben Monaten.
Aber sein Zustand hatte sich enorm gebessert, er hatte geschafft, mit Selbstverletzung aufzuhören und nur noch manchmal Suizidgedanken. Nicht mehr all day, every day.
Ehrlich gesagt stand er der Entlassung direkt gegenüber.
Ich klopfte an die Tür.
"Ja?"
Ich machte die Tür auf.
Adam lag in seinem Bett und starrte emotionslos an die Decke.
"Hey, willst du kurz mitkommen?"
Er sah kurz zu mir.
"Ja, ich kann sowieso nicht schlafen."
Ich ging mit Adam in das leere Wohnzimmer.
"Du scheiß Snitch", murmelte Adam.
"Taras weiß es nicht von mir."
"Aber du hast ihm geraten, mich einweisen zu lassen, oder?"
Ich seufzte. "Ja. Ist auch das einzig vernünftige, wenn man will, dass du am Leben bleibst."
Er schaute auf seine Hände. "Und?"
"Und was?"
"Hast du meine drecks Akte gelesen?"
"Muss ich zwar, aber ich wollte davor mit dir reden", sagte ich leise.
Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen.
"Ich bin so am Arsch... und der Entzug ist noch nicht mal losgegangen."
"Was kriegst du denn als Substitution?"
"Methaddict wahrscheinlich. Richtig scheiße, so werd' ich nie clean."
"Kann man leider nichts machen, du musst seit zwei Jahren abhängig sein für Diamorphin."
"Ich nehm' den Scheiß schon echt lange, fuck, aber zwei Jahre kommen nicht ganz hin."
"Mies", seufzte ich.
"Ja, richtig mies."
Adam kratzte an seiner Hand herum.
"Hör besser damit auf, da können Narben zurückbleiben."
Adan fing an, zu lachen.
Oh, fuck.
"Sorry, wusste nicht, dass du dich selbst verletzt", fügte ich leise hinzu.
"Alles gut, keine Ahnung, warum ich das so lustig fand."
"Du verarbeitest deine Krankheiten halt mit Humor. Machen viele."
"Ist mein Zimmernachbar sehr... naja, schwierig?"
"Nein, gar nicht. Maik ist ein sehr ruhiger Mensch. Er hat noch nie 'nen Aufstand gemacht, und das kann ich von wenigen Patienten behaupten."
Adam seufzte.
"Ich werd' spätestens morgen früh, wenn ich auf Entzug bin, mies reinkacken und ausrasten oder so. Nur damit du gewarnt bist."
"Keine Sorge, das passiert hier öfter. Ich geh' auch morgen früh wieder."
Er schmunzelte. "Okay..."
"Gute Nacht, Adam. Schlaf gut."
"Gute Nacht, Maya. Oder eher ereignislose Nacht. Oder so."
Ich schmunzelte und ging zurück ins Büro.
"Gibst du mir mal die Akte von dem neuen?"
Mina schob mir eine überraschend dicke Akte zu.

Patient: Adam Stahnke
geb. 15.05.2004

Ich machte die Akte auf und wurde von einem sehr zerschnittenen Arm begrüßt. Scheiße, das hatte ich ehrlich bis vorhin nicht mitbekommen. Obwohl es Sommer war und Adam immer lange Sachen angehabt hatte. Ich hätte es zumindest erahnen können.
Ich blätterte weiter.
Er war schon mal hier gewesen?
Krass.
Gar nicht so lange her.
Erst ein Jahr. Für drei Monate.

Diagnosen:

F11.0 akute Intoxikation durch Opioide
F11.2 Entzugssyndrom durch Opioide
F11.5 psychotische Störung durch Opioide
F12.0 akute Intoxikation durch Cannabinoide
F12.2 Abhängigkeitssyndrom durch Cannabinoide
F14.1 schädlicher Gebrauch von Kokain
F42.2  Zwangshandlungen und -gedanken, gemischt
F43.1 posttraumatische Belastungsstörung
F48.1 Depersonalisations- und Derealisationssyndrom
F60.0 Paranoide Persönlichkeitsstörung
F84.5 Asperger-Syndrom
F90.0 Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung
F95.9 Ticstörung, nicht näher bezeichnet
Z72.8 Selbstverletzendes Verhalten

Ich klappte die Akte erst Mal wieder zu.
Eigentlich ging es mich nichts an, aber er war hier Patient.
Die Neugier siegte letztendlich doch und ich machte die Akte wieder auf.

Pat. wirkt wach, klar und orientiert. Stimmung gleichbleibend schlecht, Pat. äußert mehrmals den Wunsch, nach Hause zu gehen. Im Gespräch kann Pat. den Blickkontakt nicht halten. Pat. antwortet adäquat auf Fragen. Stimmen hören ca. 3× wöchentlich. Keine visuellen und taktilen Halluzinationen. Motorische Unruhe. Keine Schlafprobleme oder Alpträume. Selbstverletzung in Form von Schneiden letztmals Anfang der letzten Woche. Keine Suizidgedanken, keine akute Suizidalität. Pat. ist Absprache- und Bündnisfähig.

Scheiße, das war echt hart. Ich konnte mir denken, dass er mies gelogen hatte, um wieder nach Hause zu kommen.
Hoffentlich machte er das dieses Mal nicht.

zwei dosen spriteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt