𓆈 6. Kapitel 𓆈 Willkommen in Tausendwasser!

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Amelie kam es vor, als hätte sie Jahre geschlafen. Als wäre sie auseinandergebaut und neu zusammengesetzt worden. Sie spürte ihre Fingerspitzen nicht und sie war nicht sicher, ob ihr Kopf noch an der richtigen Stelle saß. 

Sie blinzelte. 

Um sie herum tanzten tausend Farben bunt durcheinander. Grelle Lichtpunkte ploppten hier und da auf, nur um zu verschwinden und in einer anderen Ecke wieder aufzutauchen. 

Eine unbekannte Melodie schwebte durch ihren Geist, aber sie war wunderschön und Amelie seufzte genüsslich. Ihr Atem war tief und langsam. Die Luft, die sie einatmete, war glasrein und frisch wie Quellwasser. 

Sie blinzelte noch einmal und streckte ihre Hand aus, in der Suche nach einem Halt oder einer Orientierung.

Ihre Erinnerungen wollten noch nicht aufholen. Was war passiert? Sie war in diesem Hinterhof gewesen und Johannes... Er hatte den Baseballschläger in der Hand... Minna... 

Irgendjemand berührte ihre Hand und Amelie zuckte zusammen. Sie riss die Augen auf und sah hinter weißen Flecken ein verschwommenes Gesicht. Sie erkannte es nicht und bekam Angst. 

"Keine Angst", hörte sie die fremde Stimme flüstern. "Du bist sicher." Amelie wollte protestieren, aber sie hatte noch keine Kontrolle über ihren Körper. Das Gesicht wurde langsam schärfer und die Farben ordneten sich wieder so, wie sie es gewohnt war. Es war ein älteres Gesicht. Ein blaues Bandana. Eine große Narbe. 

Plötzlich kehrten ihre Erinnerungen mit einem Schlag zurück und sie setzte sich kerzengerade auf. Sofort wurde ihr schwarz vor Augen und Übelkeit erfasste sie. "Sch, sch, immer ruhig mit den jungen Nestlingen", beschwichtigte die gleiche Stimme und Amelie sah zur Seite. Jetzt erkannte sie das Gesicht. Es war Elli. Elli Wildfang. Freundin ihrer Mutter. Sie lächelte Amelie freundlich an und stand dann auf. 

Ihr Kopf wurde langsam klarer und sie sah sich um. Sie war in eine Art Kellergewölbe. Die Decken waren sehr hoch und alles leuchtete in einem warmen Licht. Die Wände bestand aus glitzerndem Felsgestein. Überall um sie herum waren die kristallartigen Kapseln aufgereiht und ihre Deckel standen offen. Dutzende verwirrte Kindergesichter saßen genauso verdutzt und beunruhigt in ihren Lagern. 

Amelies direkte Nachbarn waren noch nicht aufgewacht. Das Mädchen auf ihrer Rechten wimmerte und verzog das Gesicht, während sie immer wieder den Mund öffnete, als wolle sie schreien. Hat sie einen Albtraum? fragte sich Amelie besorgt und beugte sich hinüber. Ihre Stirn war ganz verschwitzt und ihr kurzes, schwarzes Haar klebte an ihren Schläfen. 

Amelie berührte ihre Schulter. "Hey." Das Mädchen stöhnte und drehte sich herum. Amelie rüttelte fester. "Hey, wach auf. Wir sind da, alles ist gut", beteuerte sie und sah erleichtert, wie das Mädchen die Augen aufriss. Das Mädchen, das so zierlich aussah, als könnte eine unsanfte Berührung sie zerbrechen, sah sich panisch um. Ihre Brust hob und senkte sich so schnell, dass Amelie sich beunruhigt umsah, ob ein Erwachsener in der Nähe war. 

Sie sah Elli Wildfang an einem der vielen Torbögen stehen. Sie unterhielt sich mit dem ernsten Blonden, der auch auf Dock 3 bei ihr gestanden hatte. Sie war zu weit weg, um sie zu rufen, also suchte Amelie weiter und fand eine alte Frau in einem schlichten Kleid, die weiter hinten durch die Reihen ging. Sie hatte eine eindrucksvolle Flechtfrisur, die wie ein Korb geflochten war und mitten drin saß eine sandfarbene Katze.

Amelie musste grinsen. Wie verrückt. 

Bei jedem Kind blieb die alte Dame stehen und redete leise mit ihnen. Amelie warf einen Seitenblick auf das zierliche Mädchen neben ihr, das immer noch atmete, als wäre sie von einem bösen Geist besessen. Es war ein schrecklich kratziges Keuchen. 

Wo Drachen sich verstecken | Die Schule der Drachenkünste | BAND 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt