Kapitel 6 | Riat

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Jetzt 

Mein Gehirn registrierte so viele Dinge gleichzeitig, dass ich für einen Moment einfach nur bewegungsunfähig da saß. Meine Hand, die wenige Sekunden zuvor, noch ihre dunkle Strähne umschlungen gehalten hatte, verharrte ziellos in der Luft.

Wieso ich immer wieder dazu neigte danach zu greifen, wenn wir einander nah waren, konnte ich mir nach wie vor nicht erklären. Vielleicht weil es der einzige Teil von ihr war, den ich berühren konnte, ohne dass sie mir sofort den Kopf ab riss. Möglicherweise, weil es mir ein Gefühl der Macht gab, zu wissen, dass sie deshalb nicht so einfach vor mir flüchten konnte. Vermutlich eine Mischung aus beidem. Was ich mit Sicherheit wusste, war, dass ich nicht aufhören konnte, egal wie sehr ich sie auch hasste.

Ihre Worte rissen mich abrupt aus meinen Gedanken. Instinktiv verspannte sich mein ganzes Gesicht und ich musste mich zusammen reißen, um keine sichtbare Reaktion zu zeigen. Sie konnte nicht ahnen, dass sie mich mit ihren Worten direkt ins Herz getroffen hatte und ich würde ihr auch freiwillig keinen Hinweis darauf geben.

Sie war nicht die Erste, die mich praktisch als Nichtsnutz bezeichnete, doch deshalb war es nicht weniger schmerzhaft als mich ihre Worte wie ein Faustschlag direkt in die Magengrube trafen. Zu ähnlich waren sie den missbilligen Reden meines Vaters darüber, was für eine Enttäuschung ich war. Genauso wie ich ihn niemals sehen ließ, dass seine Worte meine Seele mit tausenden Schnitten übersäten und mich all die Liebe bluten ließen, die ich nie erlebt hatte, würde ich auch Pierson nichts davon merken lassen.

Meine Augen verengten sich, während ich sie anstarrte, als könnte allein mein Blick sie zu Staub zerfallen lassen und damit gleichzeitig den Effekt ihrer Worte mit dem Wind davon wehen. Sie erwiderte meine stille Botschaft ihrerseits mit Flammen in den Augen und einem Ausdruck, der unverkennbare unsichtbare Dolche in meine Richtung schickte.

Am liebsten hätte ich sie gefragt, für wen sie sich hielt, dass sie meinte zu wissen, wer ich war. Doch ich brachte keines dieser Worte heraus. Ohne es zu wissen, hatte sie direkt ins Schwarze getroffen. Ich hasse alles daran. Ich hasse alles an ihr.

Trotzdem konnte ich die Flammen nicht ignorieren, die in ihren Augen brannten, und unter meiner Haut die gleiche Hitze hochkochen ließ. Seit ich ein Kind war, hatten mich Feuer und seine Zerstörungswut tief fasziniert. So konnte ich mir selbst gegenüber nicht leugnen, in welch einen Rausch es mich versetzte, nun zu sehen, wie es sich in ihr widerspiegelte. Wie hatte es mir das bisher nie auffallen können? Oder war das eine neue Entwicklung? Egal, was es war. Ich konnte nicht leugnen, dass ich es mir in den Fingern juckte, sie weiter aus der Reserve zu locken, nur um diesen Anblick nicht zu verlieren.

Gerade als ich noch etwas näher an sie heranrückte, kam mir Crestan zuvor. Dass er sich neben mich gesetzt hatte, hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt kaum wahr genommen. Mein Fokus war allein auf das Mädchen vor mir gerichtet, das ich kaum wiedererkannte.

„Hey", aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie er abwehrend die Hände hob: "Ich und ein Dealer? Nein, nein, nein. Haltet mich da raus."

Sein Gesichtsausdruck verzehrte sich vor Empörung, doch auf seinen Lippen bildete sich ein breites Grinsen, als er mit dem Zeigefinger auf sich selbst deutete: "Ich bin ein Engel. Ihr solltet alle anfangen, das endlich einzusehen."

Piersons Augenbrauen zuckten schneller in die Höhe, als ich hätte reagieren können und betrachtete ihn so zweifelnd, als könnte sie nicht glauben, dass diese Worte ausgerechnet aus seinem Mund kamen. Wenn ich ehrlich war, konnte ich es selbst nicht glauben, kannte ihn aber lange genug, um mir von ihm keine Reaktion mehr entlocken zu lassen. Dieses Mal nagten seine Worte allerdings an mir. Nicht, weil er mich nicht verteidigte, sondern weil sich ihre alleinige Aufmerksamkeit plötzlich so schnell auf ihn richtete, als hätte ich sie gar nicht erst angesprochen.

„Du?", sie klang so ungläubig, dass es mir in jeder anderen Situation möglicherweise ein Grinsen entlockt hätte: "An dir ist genauso wenig Unschuldiges wie an ihm."

Mit ihrem Zeigefinger pikste sie in die Luft zwischen Crestan und mir, bedachte mich dabei aber nicht einmal mit einem Seitenblick.

Meine Augen verengten sich zu schlitzen. Ein Jahr und ich war nicht einmal mehr einen Blick von ihr wert? Früher hatte allein mein Auftauchen sie aus dem Konzept gebracht. Selbst wenn sie sich damals gegen mich zu wehren versuchte, war sie letztendlich immer eingeknickt und hatte mir die Oberhand in unseren Aufeinandertreffen überlassen. Nun hielt sie sich plötzlich nicht nur für ebenbürtig, sondern ich selbst war wie eingefroren. Als hätte ich jede Fähigkeit, die Kontrolle über die Situation zu gewinnen, auf einen Schlag verloren.

Mir blieb nichts anderes übrig, als die Arme vor der Brust zu verschränken und mich auf meinem Stuhl zurückzulehnen, als würde ich den Schlagabtausch zwischen meinem besten Freund und dem Mädchen, das, ohne es zu wissen, fast mein Untergang gewesen wäre, gelangweilt verfolgen. My love? Wie hatte mir das herausrutschen können? Es passte nicht zu der Beziehung, die wir zueinander hatten. Ich konnte nur hoffen, dass sie nichts Falsches hineininterpretierte. Eins hatte ich damit aber bewerkstelligt. Sie aus der Fassung zu bringen.

„Wirf mich nicht in einen Topf mit ihm", hielt Crestan dagegen, als müsste er seine Ehre verteidigen: "Ich war auf deiner Seite."
„Wann das denn?", Pierson starrte ihn an, als hätte er verkündet, dass er dem Mönchtum beitreten und von jetzt an in Abstinenz leben wollte.

„Der Pool Zwischenfall. Erinnerst du dich nicht mehr?", er sah sie vielsagend an, als wartete er nur darauf, dass es klick machte. In meinem eigenen Kopf herrschte jedoch gähnende Leere. Pierson schien dagegen genau zu wissen, wovon er sprach. Ihre Zähne gruben sich in ihre Unterlippe, während sie nur mit den Schultern zuckte, als wollte sie nicht ganz gestehen sich zu erinnern. Wie sehr sie dabei für einen Moment dem Mädchen ähnelte, das ich vor einem Jahr hinter zurückgelassen hatte, entging ihr vermutlich. Fast wäre es mir genauso gegangen, weil meine Gedanken noch immer um Crestans Worte kreisten.

Meine Schultern verspannten sich und jede vorgetäuschte Langeweile drohte jeden Moment von mir abzufallen.
„Welcher Vorfall?", meine Finger schlossen sich um das Paperback vom großen Gatsby auf meinem Tisch in einem Versuch die Hände nicht zu Fäusten zu ballen.
Ein verschmitztes Grinsen schlich sich auf Piersons Lippen, als ergötzte sie sich an meinem Unwissen, bevor sie nur mit den Schultern zuckte: "Keine Ahnung wovon du sprichst."

Kurzerhand drehte sie sich wieder nach vorne, als würde sie das Gespräch langweilen, und schlug das zugefallene Buch erneut auf, um ihre Notizen fortzusetzen.

„Verarsch mich nicht, Carnegie", mein Tisch rutschte geräuschvoll über den Boden, als ich näher an sie heranrückte, und brachte mir kritische Blicke meiner Mitschüler ein. Mittlerweile saß ich so nah hinter ihr, dass ich mich nicht einmal nach vorne beugen musste, um mit ihr zu sprechen: "Oder kneifst du jetzt doch?"

Zu meiner Überraschung wandte sie sich nicht erneut zu mir um, um mir eine Antwort ins Gesicht zu spucken. Stattdessen blieb Pierson vollkommen ungerührt auf ihrem Platz sitzen, sodass ich im ersten Moment zu glauben begann, dass sie mich vielleicht gar nicht gehört hatte. Dann begannen ihre Schultern jedoch zu beben und im nächsten Moment vernahm ich ... ein Lachen? Pierson Carnegie lachte mich aus.

Über die Schulter hinweg hielt sie mir den Mittelfinger entgegen.
"Fick dich, Riat", war die einzige Antwort, die sie für mich übrig hatte.

Na, sieh mal einer an. Aus dem kleinen Lamm war eine Löwin geworden. Oder zumindest dachte sie das. Doch eins hatte sie eindeutig übersehen. Auch nach einem Jahr war ich nach wie vor ein Kingmaker und es war wahrscheinlicher, dass die Hölle zufror, als dass ich Pierson Carnegie kampflos aufsteigen ließ.

Tyrannized (Kingmaker Series #1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt