Qamischlo, September 2023
Min te xweştir didît- Ich hatte dich schöner in Erinnerung
Nun stehe ich hier, vor deinem Grab. "Rahma xwede lê be, Agit Ezmir", gestorben am 24.09.2023, steht auf deinem Grabstein. Du wurdest nur 22 Jahre alt. Von diesen 22 Jahren haben wir mehr als 19 Jahre gemeinsam geteilt. Ich komme deinem Grab näher, meine Augen füllen sich mit Tränen, mein Mund zittert, weil ich nicht weinen will. Ich kann nicht mehr stehen, meine Knie geben nach, ich nehme die Erde auf deinem Grab in meine Hände.
"Wie konntest du nur? Wieso? Warum du? Wieso hast du mich so früh verlassen, Agit? Wieso nur?"
Ich weine, Träne um Träne. Die Wut in mir ist nicht zu beschreiben. Worauf bin ich wütend, auf dich oder auf mich, Agit? Ich wünsche mir nichts anderes. Ich will nur, dass du aufstehst. Komm, lass uns nach Hause gehen. Du magst es doch gar nicht, so lange zu liegen. Es ist doch bestimmt ungemütlich da unten. Komm, steh auf. Ich will doch nur ein allerletztes Mal deine Hand spüren, ein allerletztes Mal dich sehen und ein allerletztes Mal dich umarmen.
"Verzeih mir, verzeih mir, dass ich nicht früher gekommen bin. Ich hätte dich an dem Tag nicht zu mir rufen dürfen. Aber Agit, würdest du aufstehen, wenn ich dir den Grund nenne, wieso ich dich an jenem Tag gerufen habe? Ich wollte dir meine Liebe offenbaren. Auch wenn ich weiß, dass du mich nie so lieben würdest, wollte ich es trotzdem tun. Ich wollte, dass du meine Gefühle dir gegenüber verstehst. Doch schau uns jetzt an. Ich stehe hier und du tief unter dieser Erde. Sag schon, wer hatte dich auf dem Gewissen, wer! Ich werde ihn eigenhändig finden und umbringen. Dieses Mal werde ich wirklich zu einer Mörderin, das schwöre ich dir. Wenn ich daran denke, dass ich dich nie wieder sehen werde, tut mir mein Herz so unfassbar weh. Ich will dich wieder neben mir haben, ich will, dass du an meiner Seite bist. Es reicht, wenn du nichts sagst. Du sollst nur wieder da sein und mich anlächeln, so wie du es immer tust. Ist das zu viel verlangt? Oh Gott, was ist das nur für eine Prüfung? Ich habe niemandem je etwas Schlechtes angetan. Wieso hast du mir den Menschen weggenommen, den ich über alles geliebt habe? Agit, ich kann nicht ohne dich. Ich schaffe es nicht. Ich brauche dich. Ich brauche nur dich, um weiterzuleben."
Ich wische meine Tränen weg. Ich weiß doch, wie sehr du es hasst, wenn ich weine. Zu dieser Jahreszeit ist es nie windig, doch als ich meine Tränen wegwische, weht der Wind. Ich schaue hoch zum Himmel.
"Du hast mich gehört, Agit, oder? Bitte gib mir ein Zeichen, wenn du hier bist."
Ich schaue zu den Bäumen, die Äste wedeln wie verrückt. Meine Hände auf deinem Grab. So sollte wohl unser Abschied sein, Agit. Du bist nun wieder da, in deiner geliebten Heimat Qamischlo. Auch wenn ich dich nicht umgebracht habe, werde ich wohl in den Knast gehen müssen. Mittlerweile wird nach mir gefahndet, wegen Mordes an Agit Ezmir.
Halte ich es ohne dich wirklich aus? Ji bo vê êşê derman tûne ye. Gegen diese Art von Schmerz gibt es kein Medikament.
Ich stehe nun an der Grenze zu Nusaybin, meiner Heimatstadt. Zwischen uns beiden liegt nun auch eine Grenze, Agit, genauso wie die Grenze zwischen Nusaybin und Qamischlo. Obwohl diese Städte damals eins waren, wurden die Grenzen irgendwann von der Türkei und Syrien gezogen. Sieh uns jetzt an, Agit. Du in Qamischlo und ich in Nusaybin. Und noch was, Agit, tav heye lê ez germ naben. Die Sonne scheint zwar, doch sie wärmt mich nicht.
Es wird langsam Zeit, wieder zurückzufliegen. Wie soll ich meine Unschuld beweisen? Die letzte Nachricht, die du erhalten hast, war von mir. Alles zeigt auf mich. Ich werde als deine Mörderin beschuldigt. Wie kann ich den Menschen bloß umbringen, den ich über alles liebe? Im Flieger blicke ich nach unten, ich sehe wieder die Grenze zwischen Qamischlo und Nusaybin, die Grenze zwischen Agit und mir. Mir rollt wieder eine Träne über die Wange. Ich kann nicht mal für dich stark sein, Agit. Wie soll ich es nur ohne dich aushalten?
Der nächste Flug geht von Istanbul los. Ich schalte mein Handy wieder ein. Mehrere Nachrichten von Freunden, Familienmitgliedern und von Agits Familie. Ich schalte mein Handy wieder aus. Ich gehe durch die Sicherheitskontrolle. Bevor ich in den Flieger einsteige, höre ich, wie jemand sagt:
"Frau Dalya Yardil, Sie werden festgenommen für Ihre Heimtückische Tat an Agit Ezmir. Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht, zu jeder Vernehmung einen Verteidiger hinzuzuziehen. Ich bitte Sie, Ihre Hände langsam hochzuheben und sich zu mir zu drehen."
Meine Augen voller Trauer und Hass, mein Gesicht emotionslos. Ich drehe mich um, vor mir steht ein deutscher Polizist, groß, gut gebaut. Sein Gesicht sehe ich mir nicht an. Ich strecke meine Hände aus, er legt mir die Handschellen an.
"Das hat doch super geklappt. Jetzt müssen wir drei Stunden fliegen und Sie werden direkt der Bundespolizei in Hamburg übergeben."
Ich bleibe still, es bringt sowieso nichts, etwas zu sagen. Meine Hände hat der Polizist mit einer Jacke verdeckt, damit die anderen Passagiere im Flieger keine Panik bekommen. Dabei bin ich doch unschuldig. Wer tötet die Person, die man am meisten liebt? Ich bekomme den Platz am Fenster, der Polizist neben mir.
"Gibt es eventuell Plätze mit viel Beinfreiheit? Ich sitze echt ungemütlich", höre ich ihn die Stewardess fragen. Seine Sorgen hätte ich gerne.
Ich schließe meine Augen. In drei Stunden bin ich wieder in Hamburg, in der Stadt, die mir alles genommen hat, und zwar dich, Agit. Der Captain spricht:
"Wir haben heute ein Unwetter. Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Turbulenzen, bleiben Sie ruhig. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug."
Meine Augen noch immer geschlossen, summe ich in Gedanken unser Lieblingslied, dein Lieblingslied, Agit: "Heartless" von Kanye West. Während meine Augen weinen, formen sich meine Lippen zu einem Grinsen. Immerhin sehe ich dich, wenn ich meine Augen schließe.
In der Luft beginnt das Flugzeug sich stark zu bewegen. Der Pilot meinte, es könnte zu Turbulenzen kommen, aber ist das normal? Ich öffne meine Augen und schaue aus dem Fenster. Unter mir ist das Meer zu sehen, doch der Regen ist stark, so stark, dass ich sogar das Gewitter direkt vor meinen Augen habe.
Dann sterbe ich eben hier. Was habe ich denn noch zu verlieren?
Ich schließe meine Augen.
"Dalya, leb für mich weiter."
Ich öffne meine Augen. Agits Stimme. Eine Träne rollt herunter.
"Bitte bleiben Sie sitzen."
Die Lichter im Flieger gehen aus.
Was geht jetzt vor sich? Stürzt dieser Flieger jetzt ab? Ich darf nicht sterben, nein. Ich muss für Agit weiterleben. Ich darf nicht sterben, bis diese Hunde zur Rechenschaft gezogen werden, die für seinen Tod verantwortlich sind. Mein Herz beginnt zu rasen. Das ist alles, aber keine Turbulenzen. Ich schaue zu dem Polizisten neben mir, er sitzt gelassen.
"Ich glaube, wir stürzen ab", sage ich panisch.
"Du darfst mit mir nicht reden", sagt er.
Ich hebe meine Augenbraue hoch, doch in dem Moment spüre ich nur noch, wie der Flieger fällt. Um mich herum schreien die anderen Passagiere. Unbewusst halte ich die Hand des Polizisten fest. Ich schließe meine Augen.
"Ich komme zu dir, Agit."
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𝐊𝐮𝐫𝐝𝐢𝐬𝐡 𝐑𝐨𝐮𝐥𝐞𝐭𝐭𝐞
Romance𝑭𝒍𝒖𝒄𝒉𝒕 𝒊𝒎 𝑺𝒕𝒖𝒓𝒎 Dalya wird beschuldigt, ihren besten Freund Agit ermordet zu haben. Statt sich zu verstecken, reist sie trotz Haftbefehls in Agits Heimatstadt Qamishlo, um sein Grab zu besuchen. Dieser mutige Schritt wird als Fluchtver...