Kapitel 4

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Mardin, Juli 2019

Tim te birînên min cebirand, lê tu niha bûyî birînda min a herî mezin.- Du hast immer meine Wunden geheilt, aber jetzt wurdest du meine größte Wunde.

Es sind die letzten Sommerferien vor dem Abi. Kurz bevor der Flieger abhebt, nehme ich mein Handy und schreibe Agit noch schnell eine Nachricht: "In drei Stunden bin ich wieder in der Heimat hehe, 47 ist die Hood.." Ich drücke auf Senden und lege das Handy weg, während mein Herz schneller schlägt.

Kaum aus dem Flugzeug ausgestiegen, atme ich tief ein. Der erste Atemzug, diese warme Luft. Ich hab sie vermisst. Mardin, meine Heimat. Es fühlt sich vertraut und doch fremd an, nach so langer Zeit wieder hier zu sein. Wir müssen noch eine Stunde fahren, bis wir in Nisêbîn ankommen. In zwei Wochen wird Agit mit seiner Familie in Qamishlo sein. Aber vorher kommen sie hierher, zu uns nach Nisêbîn. Meine Eltern haben seine Familie eingeladen. Der Gedanke, eine Woche mit Agit, Seite an Seite, lässt mein Herz einen kleinen Sprung machen.

Ich plane schon insgeheim, mit ihm nach Midyat zu fahren. Manche sagen, Paris sei die Stadt der Liebe, aber für mich ist es Midyat. Vielleicht, vielleicht traue ich mich, ihm dort endlich meine Liebe zu gestehen. Aber der Gedanke fühlt sich auch falsch an, er ist doch mein bester Freund. Komm zu dir, Dalya, rede ich mir selbst ein. Trotzdem bleibt die Vorstellung in meinem Kopf hängen.

Die Tage vergehen schnell, und ehe ich mich versehe, steht Agit mit seiner Familie vor der Tür. Meine Mutter kommt in mein Zimmer und grinst. "Rate mal, wer gleich hier ist", sagt sie mit einem verschwörerischen Lächeln. Ich weiß sofort, wen sie meint, aber statt Agit zu sagen, sage ich scherzhaft etwas anderes. "Xalo Berwar?"

Meine Mutter lacht. "Onkel Berwar? Spinnst du? Der ist doch seit Jahren tot!" Sie lacht noch, als die Klingel ertönt. Mein Herz macht einen Sprung, und bevor ich es realisiere, renne ich die Treppe runter. Ich muss die Tür öffnen, ich will Agit als Erste sehen.

Mit klopfendem Herzen drücke ich die Türklinke herunter, die Türen hier in der Heimat sind schwer wie Panzer, und da steht er. Obwohl wir uns zuletzt erst vor einer Woche in Deutschland gesehen haben, schlägt mein Herz schneller, als ich sein Gesicht erblicke. Wenn sich Liebe so anfühlt, will ich ihn für immer lieben.

Mein Grinsen wird breiter, als er mich ansieht. Nach dem Essen sagt mein Vater, dass ich Agit unser Dorf zeigen soll. "Papa, was ist, wenn die Leute aus dem Dorf reden?" frage ich genervt, die Augen rollend.

"Wer soll schon reden?" sagt mein Vater entspannt. "Die wissen doch alle, dass ihr wie Geschwister seid."

Geschwister? Ich bleibe still und schaue zu Agit, der verlegen auf den Boden starrt. Ich stupse ihn leicht an, um ihm zu signalisieren, dass wir los können. Vor der Haustür schaut er sich um.

"Tu bêriya min kir?" fragt er leise.

Ich nicke. "Natürlich habe ich dich vermisst." Dann kneife ich ihn spielerisch in den Arm. Er stöhnt leise auf, sagt aber nichts, weil wir in meinem Dorf sind. "Los, Dali, zeig mir dein Dorf", sagt er und lacht.

Während Agit und ich durch mein Dorf schlendern, hole ich mein Handy heraus. Ich will unbedingt ein paar Videos für die Zukunft machen. Denn wer weiß schon, wann wir beide das nächste Mal zur gleichen Zeit hier sein werden? Vielleicht irgendwann in der Zukunft, wenn Agit endlich sieht, wie sehr ich ihn liebe. Und wenn er mich dann zu seiner Frau nimmt... Der Gedanke, dass er eines Tages mein Ehemann sein könnte, lässt mich unwillkürlich grinsen.

"Woran denkst du?" fragt Agit plötzlich und wirft mir einen neugierigen Blick zu.

Ich zucke nur mit den Schultern, aber er lässt nicht locker. "Na los, sag schon! Oder hat sich etwa jemand aus dem Dorf in dich verliebt?" Er sieht mich gespielt ernst an. "Sag nicht, du hast dich hier in jemanden verliebt!"

𝐊𝐮𝐫𝐝𝐢𝐬𝐡 𝐑𝐨𝐮𝐥𝐞𝐭𝐭𝐞Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt