Kapitel 7

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»Als ich dich das erste Mal sah, dachte ich, du wärst wie jede andere. Doch du belehrtest mich eines Besseren.«

David

Nachdem Nathan ins Taxi gestiegen und davongefahren war, wollte ich mir ebenfalls ein Taxi rufen. Wir kamen nämlich mit Nathans Auto hierher, aber da wir beide zu viel getrunken hatten und die Situation uns etwas überrumpelt hatte, war es wohl das Beste, es bis morgen hier stehen zu lassen. Doch bevor ich dazu kam, bemerkte ich glücklicherweise noch rechtzeitig, dass ich fast mein ganzes Geld ausgegeben hatte. Für die Länge der Fahrt würde mein restliches Geld niemals ausreichen. Es klingt zwar traurig, aber seit der Inflation ist alles teurer geworden, wirklich alles. Auch die Taxipreise sind davon betroffen. Und da ich etwas weiter weg wohnte, würde ich damit niemals hinkommen. Normalerweise wäre das kein Problem für mich, denn ich hatte genug Geld. Doch für diese Nacht sah es ... naja ... schlecht aus.

Natürlich könnte ich auch das Geld geben, nachdem ich zu Hause abgesetzt wurde, aber irgendwie war es mir peinlich, zu sagen, dass ich erst rein müsste, um mein Geld zu holen. Er könnte denken, ich wolle ihn verarschen. Ich meine, wer würde einem Betrunkenen Typen schon glauben?

Also entschied ich mich dazu, nach Hause zu laufen (was anderes blieb mir ja auch nicht übrig). Mitten auf dem Weg setzten langsam wieder die Kopfschmerzen ein, die ich auch heute Morgen hatte. Ich verfluchte mich selbst dafür, dass es ausgerechnet jetzt sein musste. Das kam bestimmt durch den Alkohol und den ganzen Stress. Ich hätte weniger trinken sollen. Zum Glück waren die nicht so schlimm, dass ich mich irgendwo hätte hinsetzten müssen.

Trotz der Beleuchtung auf der Straße war es im Dunkeln verdammt unheimlich, hier entlang zu laufen. Seit dem Vorfall hatte ich das Gefühl, nicht mehr alleine zu sein, und das bereitete mir Gänsehaut am ganzen Körper. Die kühle Nachtluft tat ihre Aufgabe und ließ mich frösteln. Ich zog meinen Mantel enger um mich, aber es half kaum gegen die feuchte Kälte, die durch jede Faser meiner Kleidung drang.

Eine Dampfwolke erschien vor meinem Gesicht, als ich die kühle Luft wieder ausatmete. Wann ist es eigentlich so kalt geworden? Hatten wir nicht erst Mitte August? Stimmt ja, wir haben ja bereits August. Der Gedanke kam wie aus dem nichts, und ich schaute zum Himmel hoch. Keine einzige Wolke war zu sehen, weshalb die Sterne ihren besten Glanz zeigen konnten.

Meine Großmutter hatte mir als Kind mal erzählt, dass da oben, die Verstorbenen sitzen und über uns wachen, wie leuchtende Sterne am Himmel.

Ihre Worte gaben mir immer Trost, wenn ich Angst hatte. Jetzt, in dieser kühlen, unheimlichen Nacht, schien ihr Trost jedoch so fern wie die Sterne selbst. Ihre Schönheit und Klarheit standen im krassen Gegensatz zu der Dunkelheit und Kälte, die mich umgab.

Es sind also schon zwei Monate vergangen, seit dem ich die Nachricht vom Doktor erhielt :

"Es tut mir leid, aber es gibt keine Möglichkeit auf Heilung."

Bald würde ich all das nicht mehr erleben – die Angst, die Schmerzen, die Freude.

"Es tut mir leid, aber es gibt keine Möglichkeit auf Heilung."

Angst. Angst. Angst. Angst.
Angst. Angst. Angst. Angst.
Angst. Angst. Angst. Angst.
Angst. Angst. Angst. Angst.

Mein Mund fühlte sich plötzlich trocken an, und meine Gedanken wurden von einem überwältigenden Durst unterbrochen (zum Glück). Ein kühles Getränk, das meinen Durst für einen Moment stillen würde, wäre jetzt perfekt. Der Alkohol musste dafür verantwortlich sein, und diesmal war ich wirklich froh darüber.

Als ich mich umsah, bemerkte ich ein Kiosk, das noch geöffnet war. Ein schwaches Licht flackerte über dem Eingang, und ich beschloss, mir dort etwas zu trinken zu holen. Immerhin hatte ich heute etwas Glück. Doch als ich näher kam, blieb ich abrupt stehen.

Doch kein Glück.

Vor dem Kiosk sah ich Aleyana. Mein Herz begann schneller zu schlagen, und ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Was macht sie hier?

Eine Welle der Unsicherheit überwältigte mich, und ich entschied mich, mich wie ein kleines Kind zu verstecken. Schnell trat ich hinter einen nahegelegenen Baum und spähte vorsichtig hervor. Aleyana schien etwas zu kaufen und hatte mich wohl noch nicht bemerkt.

Bei genauerem Hinsehen bemerkte ich, dass sie einen grauen Hoodie trug, dazu eine passende Jogginghose und einfache Hausschuhe. Ihre Haare hatte sie zu einem Dutt gebunden, nur einzelne Strähnen fielen ihr ins Gesicht.

Sie sah völlig anders aus als auf der Arbeit – gar nicht mehr elegant. Trotzdem nahm es ihr nicht die Schönheit, die sie immer wieder ausstrahlte.

Stopp, was denke ich da?

Ich schüttelte meinen Kopf, um wieder klarer zu denken.

Ob sie hier in der Nähe wohnt? Davon gehe ich mal aus, sonst würde sie doch niemals mit Hausschuhen und Jogginganzug hierhin kommen, und das so spät in der Nacht.

Allgemein fragte ich mich, was eine junge Dame um diese Zeit hier zu suchen hatte. Eigentlich wollte ich wieder gehen und mir woanders etwas zu trinken holen, aber ich konnte sie doch nicht alleine hier lassen, jetzt da ich wusste, dass sie ohne Begleitung war. Die Welt ist schon gefährlich genug und für Frauen, sowieso.

Ich entschloss mich also dazu, hier zu bleiben, bis sie fertig war und wieder ging. Wenn sie wirklich hier wohnte, dürfte ihr Weg nicht allzu weit sein, sodass ich sie (hoffentlich) von hier aus beobachten konnte, wie sie sicher nach Hause ging.

Aleyana griff nach etwas im Regal und ließ es plötzlich fallen. Als sie sich bückte, um es aufzuheben, stieß sie versehentlich einen ganzen Stapel weiterer Artikel um. Peinlich berührt versuchte sie, das Chaos wieder zu ordnen. Ich konnte nicht anders, als kurz zu schmunzeln, hörte aber sofort wieder auf.

Das darfst du nicht.
Ermahnte ich mich selbst.

Ihr peinlicher Ausdruck und das hektische Aufsammeln der heruntergefallenen Artikel brachten mich dennoch dazu, sie noch genauer zu beobachten.

Sie ist also ein Tollpatsch, wer hätte das gedacht. Sie hat immerhin am ersten Tag auch ihre Tasse (fast) fallen lassen.

Nun eilte die Kassiererin herbei und half Aleyana, die heruntergefallenen Artikel aufzusammeln. Aleyana bedankte sich und ging zur Kasse, um ihre Sachen zu bezahlen. Immer noch peinlich berührt, verabschiedete sie sich, trat aus dem Kiosk und sah sich erst einmal um, bevor sie eilig nach Hause rannte. Wahrscheinlich wollte sie so schnell wie möglich dort ankommen. Kein Wunder bei so einer Uhrzeit, wieso musste sie auch so spät noch hier hin? Hätte sie nicht warten können, bis es hell wurde?

Nachdem Aleyana endlich weg war, ging ich wieder zum Eingang des Kiosks, sah noch einmal in ihre Richtung und trat dann ein, um mir eine Flasche Wasser zu holen. Nachdem ich bezahlt hatte, nahm ich einen Schluck und spürte pure Erleichterung. Das habe ich gebraucht! Auch meine Kopfschmerzen fingen wieder an, leicht zu verschwinden. Ich glaube wirklich, dass ich einfach etwas zum Entgiften brauchte. Seit ich mit Nathan unterwegs war, gab es nichts außer Alkohol. Ich hoffe nur, dass es nach dem Schlafen keine bösen Auswirkungen auf mich hatte.

Ich verschloss die Flasche und machte mich anschließend wieder auf den Weg.

Ob Nathan gut zuhause ankam?

Diesmal war er es der meine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Ich hoffte es, denn er sah wirklich fertig aus.

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