Noahs Sommer

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Noah lag auf dem Sofa im Arbeitszimmer in der neuen Wohnung seiner Mutter auf dem Rücken und starrte die Decke an. Hier sollte er also die nächsten drei Wochen verbringen. Viel schlimmer als die letzten drei Wochen bei seinem Vater und dessen neuen Freundin konnte es immerhin nicht werden, dachte er.

Nachdem sich seine Eltern vor wenigen Monaten getrennt hatten und im Trennungsjahr lebten, waren sie auch aus dem Haus ausgezogen, in dem Noah aufgewachsen war. Demnach hatte sich Noah im Gegensatz zu den meisten seiner Mitschüler:innen auch nicht besonders auf die Ferien gefreut. An Familienurlaub war nicht zu denken, Kontakt zu seinen Klassenkamerad:innen aus der alten Heimat hatte er auch kaum noch und sein Hund Freddy würde die Sommerferien bei Chung und dessen Familie verbringen.

In den ersten Tagen der Sommerferien war Noah zugegebenermaßen auch etwas erleichtert darüber gewesen, wenigstens seinem Mitbewohner Colin aus dem Weg gehen zu können. Eigentlich mochte er Colin ja, sogar sehr. Er war die immerhin erste Person, die er seit Jahren wieder als einen wirklichen Freund bezeichnen würde. Erst hatte er sich liebevoll um seinen Hund Freddy gekümmert und dann hatte die gemeinsame Arbeit an ihren Filmprojekten sie wirklich zusammengeschweißt. Noah mochte es, dass Colin ihn durch seine manchmal etwas tollpatschig wirkende, selbstsichere Art immer wieder zum Lachen bringen konnte, und auch ernste Gespräche fühlten sich mit ihm so leicht an.

Doch seitdem Colin ihn aus dem nichts geküsst hatte, war Noah regelrecht sauer auf ihn - dafür, dass er ihn in diese Situation gebracht hatte, in der er jetzt steckte. Da konnten auch Colins tiefe grüne Augen und seine süßen verwuschelten Haare nichts mehr dran ändern. - Warum konnten sie denn nicht einfach Freunde bleiben? Immer wenn Noah in seinem bisherigen Leben geglaubt hatte, einen wahren Freund gefunden zu haben, schien sich das Universum gegen ihn verschworen zu haben. Erst war da Paul, sein bester Freund aus der Grundschule, der durch einen Jobwechsel seiner Eltern in andere Stadt gezogen war, und dann Leander, der sich kaum mehr für Noah interessiert hatte, seit er im Schullandheim auf einer Party ein Mädchen aus der Parallelklasse geküsst hatte - und jetzt Colin, der sich in ihn verliebt hatte.

Doch die Erleichterung darüber, dass die Sommerferien ihm immerhin Abstand von Colin und dem, was zwischen ihnen passiert war, verschaffen würden, verblasste schon am ersten Abend. Sein Vater hatte ihm beim Abendessen eröffnet, dass er eine neue Freundin hatte. Noah lernte sie gleich am nächsten Tag kennen und sie war ihm ab dem Moment unsympathisch, als er beobachtete, wie sie ununterbrochen mit ihren Augenlidern klimperte, sobald sie mit seinem Vater sprach. Noch dazu stellte sie ihm unangenehme Fragen, die eigentlich schon Grund genug gewesen wären sie zu hassen („Weißt du schon, was du nach der Schule machen möchtest?" „Na, gibt es da auch gutaussehende Mädchen auf dem Internat?", oder „Willst du dich nicht mal mit deinen alten Schulfreunden treffen?" - seine Antwort war jedes Mal ein genervtes, aber klares „Nein" gewesen. Und selbst wenn, wäre SIE garantiert die letzte Person gewesen, mit der er darüber sprechen wollte). Aber obendrauf war sie auch noch der Meinung, dass Musik hören und Horrorfilme schauen keine ausreichenden Ferienaktivitäten für einen 15-Jährigen waren, sodass sie für jedes Wochenende einen Ausflug geplant hatte, wobei Noah sich durchgängig wie das Dritte Rad am Wagen fühlte und meistens mit einigen Metern Abstand hinter seinem Vater und dessen neuen Freundin her schlurfte, während diese Händchenhaltend durch die Straßen schlenderten.

Jetzt bei seiner Mutter hatte er wenigstens seine Ruhe. Die war tagsüber in der Arbeit und da sie es seit der Trennung nicht aushielt allein in ihrer neuen Wohnung zu sitzen, hatte sie sich auch ihre Abende mit Sport- und Sprachkursen und Verabredungen mit ihren Freundinnen weitestgehend verplant. Noah genoss es, dass ihm endlich niemand mehr unterschwellige Vorwürfe zu seinem Schlafrhythmus oder seine Freizeitgestaltung mache. Gleichzeitig merkte er aber auch, dass - so sehr er es liebte den ganzen Tag Horrorfilme in einem abgedunkelten Zimmer zu schauen, - er sich wohl oder übel noch eine andere Beschäftigung für die nächsten Wochen überlegen musste, damit ihm nicht endgültig die Decke auf den Kopf fallen würde.

Nolin SnippetsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt