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Charlie


Am Nachmittag stehen keine Termine an. Jetzt, wo ich ernsthaft über Constanzes Angebot nachdenke, bin ich nicht mehr so wild darauf, möglichst viel von der Stadt zu sehen. Möglicherweise werde ich bald alle Zeit der Welt dafür haben. Aber Alex – mit ihm bleibt mir nur noch dieser eine Tag.

Am liebsten würde ich deshalb mit ihm im Hotel bleiben, doch er zwingt mich rauszugehen. Offensichtlich ist er wild entschlossen, mir diese Stadt schmackhaft zu machen.

Er bucht eine Stadtrundfahrt und wir sehen uns aus dem Bus heraus alle Orte an, die auf mich warten würden. Dann nimmt er mich mit zu Madame Tussauds, wo ich ihn sogar überreden kann, ein Bild zusammen zu machen – gemeinsam mit Albert Einstein, also nicht unbedingt romantisch. Trotzdem liebe ich das Bild, denn Alex hat seinen Arm um meine Schultern gelegt, grinst ein wenig schief und ich sehe ... glücklich aus.

Viel zu schnell ist der Tag vorbei, doch trotz all meiner Wehmut und Verzweiflung, ihn gehen lassen zu müssen, festigt sich der Wunsch in mir, das Angebot anzunehmen, immer mehr.

Und als wir uns am Abend auf den Weg zur großen Gala machen, steht meine Entscheidung fest. Ich werde noch einmal mit Constanze reden und die genauen Bedingungen aushandeln. Dann werde ich mich für das Stipendienprogramm bewerben. Und wenn alles passt – wenn ich umsonst im Wohnheim leben kann, wenn ich einen gutbezahlten Job bekomme und meine Mutter versorgt ist –, dann werde ich es tun.

Dann werde ich nach Wien gehen.

Ein kleiner Teil in mir sagt sich, dass es von ganz schön vielen Dingen abhängt. Fast hoffe ich, dass irgendwas davon schiefgeht. Aber gleichzeitig wird mir auch klar, dass es die beste Lösung ist – für alles.

Ich wäre endlich frei und könnte tun, was immer ich will. Ich könnte einen Neuanfang starten, weit weg von zuhause, wo ich ja doch nicht aus meiner Rolle als trauriges kaputtes Mädchen herausfinde. Hier in Wien könnte ich jemand komplett anderes sein. Nicht Charlie. Nicht Mia. Sondern eine ganz neue, glückliche Person.

Eine ganz normale Studentin.

Ich müsste mir keine Gedanken mehr um die Versorgung meiner Mutter machen. Müsste nicht mehr mit zwei oder mehr Jobs und ohne ausreichend Schlaf am Existenzminimum leben. Ich könnte Hobbys haben. Richtige Freundinnen.

Und ich würde Alex nicht mehr in Schwierigkeiten bringen können. Weil es dann vorbei wäre.



„Woran denkst du?", fragt er, als wir nebeneinander im Taxi sitzen. Er sieht unglaublich gut aus in seinem dunkelblauen Anzug, mit der Krawatte, die mir inzwischen jedes Mal Herzklopfen verursacht, wenn ich sie nur sehe. Ich sauge seinen Anblick in mich auf, versuche ihn zu konservieren.

„An Wien", sage ich und lächle.

„Eine schöne Stadt."

„Ja."

„Hast du eine Entscheidung getroffen?"

Ich nicke. Mein Mund ist trocken, doch ich bin mir sicher. „Ja", sage ich. „Ich werde mit Constanze reden, gleich nachher auf dem Ball. Wenn die Bedingungen passen, dann werde ich es machen. Es ist die beste Lösung. Für alles."

Ich kann sehen, wie er schluckt. „Das ist es", sagt er. „Du wirst es lieben, Charlie. Das wird die beste Zeit deines Lebens werden."

„Ich glaube, die beste Zeit meines Lebens waren die letzten Tage", sage ich leise. Ich kann einfach nicht verhindern, dass mich der Gedanke an den Neuanfang traurig macht. Natürlich fühle ich auch eine gewisse Aufregung, eine gewisse Vorfreude und Hoffnung, aber ... momentan überwiegt das andere Gefühl.

Alex greift nach meiner Hand und küsst sie. „Für mich auch", sagt er. „Aber glaub mir, für dich werden noch bessere Tage kommen, davon bin ich überzeugt."



Die Gala findet in der Aula der Universität statt. Bereits tagsüber ein wunderschöner, beeindruckender Ort mit stuckverzierten Säulen und Gewölbedecke – doch nun, bei Nacht und entsprechend geschmückt, ist es einfach nur atemberaubend.

Der Marmorboden glänzt und funkelt im gedimmten Licht fast golden, überall im Raum stehen opulente Blumengestecke aus Rosen, Lilien und Orchideen. Rund um den Saal stehen runde Tische, die mit weißen Hussen, goldenen Kerzenhaltern und eleganten Gedecken dekoriert sind. Jeder Tisch trägt ein zentrales Blumenarrangement.

Am hinteren Ende der Aula wurde eine erhöhte Bühne aufgebaut, davor liegt die Tanzfläche. Beides ist noch leer, als wir ankommen, doch die Aula selbst ist bereits ziemlich voll. Hunderte Menschen sind gekommen, die Herren in feinen Smokings, die Damen in bunten Abendkleidern. Alle stehen in kleinen Grüppchen durch die komplette Halle verteilt. Lautes Stimmengewirr wabert durch die Luft.

Auch ich habe mich heute Abend hübsch gemacht und trage mein schönstes Kleid, bodenlang und mit einem Farbverlauf von Schwarz zu Dunkelrot.

„Wofür wird heute Abend eigentlich gespendet?", frage ich Alex.

„Bildungsförderung", sagt er. „Das Geld fließt in das Stipendienprogramm und in Forschungsprojekte. Schau, da hinten ist Dr. Steiner. Falls du gleich mit ihr reden möchtest."

Er zeigt in die Richtung, und da ist sie tatsächlich, gemeinsam mit dem Universitätsleiter Dr. Kreuzinger. Auch sie sieht wunderschön aus. Das Haar trägt sie heute offen über eine Schulter fallend, während sie es auf der anderen Seite mit einem Kamm hochgesteckt hat. Ausnahmsweise hat sie kein Kostüm an, sondern ein elegantes schwarzes Etuikleid.

„Ja, ich gehe gleich zu ihr", sage ich. Ich bin furchtbar aufgeregt und habe außerdem Angst, dass ich es mir doch noch einmal anders überlegen könnte, wenn ich nun zu lange zögere.

„Charlotte!", sagt sie, als sie mich sieht. Sie strahlt regelrecht.

„Hallo Constanze. Hast du eine Minute?"

„Selbstverständlich." Sie mustert mich von oben bis unten, ihr Lächeln wird noch breiter. „Du siehst wundervoll aus. Worüber willst du mit mir reden? Sollen wir kurz in mein Büro gehen?"

„Das ist nicht nötig, denke ich. Es ist nur ... ich habe noch einmal nachgedacht", sage ich. Fast versagt mir die Stimme und ich räuspere mich. „Über dein Angebot. Und ich würde gerne zusagen. Ich möchte es probieren. Aber es gibt ein paar Dinge, die vorher geklärt werden müssen."

„Das ist ja großartig!", ruft sie aus. „Das sind die besten Neuigkeiten dieses Tages. Ich freue mich riesig, Charlotte! Wann geht denn morgen dein Flug, hast du am Vormittag noch Zeit?"

„Wir fliegen erst am Nachmittag zurück", sage ich, „also ja."

Gleichzeitig verkrampft sich jedoch etwas in meinem Magen. Ich hatte gehofft, den Vormittag noch mit Alex verbringen zu können. Obwohl wir nun fast eine ganze Woche zusammen hatten, war die Zeit wie im Flug vergangen – und nun zum Ende hin geht es plötzlich immer rasanter.

„Dann komm doch morgen früh um acht zum Campus", sagt sie. „Ich werde da sein. Und dann können wir alles besprechen."

Losing Control [Age Gap Romance]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt