Charlie
Die nächsten Tage plätschern ohne nennenswerte Vorfälle dahin. Ich lebe meinen Alltag, so gut es eben geht. Besuche vormittags die Uni, kaufe nachmittags ein und besuche meine Mutter, arbeite abends in der Bar und weine mich nachts häufig in den Schlaf.
Alex versuche ich bestmöglich aus dem Weg zu gehen, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Oder bis zumindest ich an den betreffenden Abend denken kann, ohne vor Scham in Grund und Boden zu versinken. Bisher sieht es allerdings nicht danach aus, dass dieser Zeitpunkt irgendwann kommen wird. Wann immer ich Alex sehe, schießt mir die Hitze ins Gesicht und mein Herz klopft schneller, und so versuche ich, die Gespräche und Treffen mit ihm so kurz wie möglich zu halten. Und ich habe das Gefühl, ihm geht es ebenso. Obwohl wir uns noch immer duzen, sprechen wir bei der Arbeit nur das nötigste und in den Vorlesungen ignoriert er mich weitestgehend.
Dabei finde ich ihn nun absurderweise interessanter als vorher, auch wenn ich das niemals jemandem erzählen würde. Ich versuche tagsüber, an irgendwas anderes zu denken, mich abzulenken, aber abends im Bett habe ich seine stechend blauen Augen vor mir und seine tiefe Stimme hallt in meinen Ohren nach. Ich hoffe nur, dass dieses Gefühl bald wieder schwindet.
Nach seiner Abfuhr habe ich mir auch verkniffen, Julie von den Einzelheiten des Abends in der Bar zu erzählen und war heilfroh darüber, dass ich das nicht bereits vorher schon getan habe. Ich hätte wirklich keine Lust gehabt, seine harsche Worte für sie noch einmal zu wiederholen.
Am heutigen Freitag schicke ich ihm die Ergebnisse meiner Arbeit per E-Mail und bekomme zwei Stunden später ein „Gute Arbeit" zurück, sowie den Hinweis, dass er sich bei mir melden wird, wenn es was Neues zu tun gibt. Sehr höflich, sehr distanziert.
Ich habe an diesem Tag nur eine kurze Vorlesung und mache danach den obligatorischen Abstecher in den Supermarkt, um für meine Mutter einzukaufen. Bis zum Nachmittag drücke ich mich davor, sie zu besuchen, dann gebe ich mir schließlich einen Ruck und mache mich auf den Weg.
Als ich in dem heruntergekommenen Haus in der Denver Road ankomme, ist es bereits halb vier am Nachmittag. Bis dahin habe ich außer einkaufen nicht wirklich etwas zustande gebracht. Seit die Euphorie über meine neue Stelle verflogen ist und von dem Abend in der Bar überschattet wird, fühle ich mich wieder wie eh und je: Irgendwie betäubt. Ich lebe mehr oder weniger in den Tag hinein und wenn ich an all meine Pflichten denke, die Arbeit, das Studium, meine Mutter, meine Geldsorgen, überkommt mich die Panik. Dann bin ich wie gelähmt, verfalle in eine Art Schockstarre und tue überhaupt nichts mehr, aber mir ist auch klar, dass ich mir diese Lethargie in diesem Semester eigentlich nicht mehr erlauben kann.
„Mom, bist du da?", rufe ich, während ich vor ihrer Wohnung stehe und ein paarmal gegen die Tür klopfe. Eigentlich ist es eher eine rhetorische Frage, reine Höflichkeit: Sie ist immer da und außerdem ist sie auch so gut wie immer zu besoffen, um mir die Tür zu öffnen. Trotzdem werde ich die Hoffnung niemals aufgeben, dass ich eines Tages eine richtige Antwort bekomme und nicht in ihre Wohnung einbrechen muss.
Auch heute bleibt die erhoffte Antwort jedoch aus. Ich krame den Zweitschlüssel heraus und schließe die Tür auf. Der übliche Gestank empfängt mich – tagealter Zigarettenqualm, so dicht, dass man die eigene Hand vor Augen kaum sieht, gepaart mit vergammeltem Essen und Alkoholausdünstungen.
„Hey Mom, ich bin's", rufe ich in die Wohnung. Es ist traurige Routine. Nichts, das mich irgendwie schockieren könnte.
Als ich ins Wohnzimmer komme, bietet sich mir ein altbekanntes Bild: Der Fernseher läuft, meine Mutter sitzt auf der Couch, eine halbabgebrannte Zigarette zwischen den dürren Fingern, deren Asche jeden Moment auf den Boden fallen wird. Ihre blassen Wangen sind eingefallen, die Augenlider hängen auf Halbmast und sie starrt teilnahmslos auf irgendeinen Punkt knapp über dem Fernseher. Ich weiß nicht mehr, wie ihre Augen ohne diesen trüben Blick aussehen.
DU LIEST GERADE
Losing Control [Age Gap Romance]
Roman d'amour~ Alex mustert mich einen Moment lang mit diesem durchdringenden Blick, den ich inzwischen so gut kenne. „Doch, es geht. Du bürdest dir zu viel Verantwortung auf", sagt er schließlich. „Es ist nicht deine Aufgabe, alles zusammenzuhalten. Es ist nich...