Teil 5 - Das Erwachen

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Eine allumfassende Dunkelheit umhüllte Adam. Das war das einzige, was er wahrnahm. Einzig und allein die Dunkelheit und er schienen zu existieren. Bei ihm selbst war er sich jedoch nicht sicher. Adam hatte das Gefühl für seinen Körper komplett verloren. Nur seine Gedanken schienen sein Wesen auszumachen. Doch was war sein Wesen? Adam begann darüber zu sinnieren, was ihn eigentlich genau definierte. War er wirklich zwingend an einen Körper gebunden? Denn hier schien er sehr gut auch ohne auszukommen. War er mehr als diese Hülle aus Blut, Knochen und Fleisch? Was bewohnte diesen Sack aus Knochen überhaupt?

Er schrak aus seinem Gedankenmonolog auf, er fühlte ein vertrautes Gefühl: Adam fiel. Wohin war ihm nicht klar, aber die Empfindung konnte er eindeutig zuordnen. Logischerweise musste er nach unten fallen, doch wo war dieses «unten» in dieser unendlichen Finsternis. Ohne einen Körper war das «Unten» nur schwer einzuschätzen. Adam kam zur Schlussfolgerung, dass er nach unten fiel, er dieses Unten aber nicht näher beschreiben könnte. Für ihn war das Gefühl des Fallens eine willkommene Abwechslung zum Schweben in der empfindungslosen Finsternis.

Im nächsten Augenblick überschwemmten ihn vertraute Sinneseindrücke. Das plötzliche Zurückkehren des Körpergefühls überwältigte ihn kurzzeitig. Mit Schrecken stellte er fest, dass er mit diesem in Wasser gefallen war. Der Aufprall auf der Wasseroberfläche musste seinen gefühllosen Körper geweckt haben. Sein Fall war zwar unterbrochen worden, jedoch schien eine unsichtbare Kraft ihn trotzdem weiter Richtung «Unten» zu ziehen. Machtlos versank sein Körper unter der Oberfläche dieses ominösen Gewässers. Kälte bohrte sich wie kleine Nadeln in seine Haut. Sie schien unerträglich und brachte die Vorahnung mit sich, dass sein Körper in ihr sogleich wieder leblos werden würde. Er versuchte sich wenigstens von innen dagegen abzuschirmen, indem er den Mund schloss und seine Nasenlöcher zudrückte. Jedoch floss exakt in diesem Moment das Wasser entgegen seiner Bemühungen in ihn hinein. Jegliche Kraftaufwände, dieses Eindringen zu verhindern, waren sinnlos. Das Wasser strömte mit der Gewalt einer Naturkatastrophe in ihn hinein und begann sogleich sein Innerstes zu durchfliessen. So wie Blut Wärme im Körper verteilt, hatte die Flüssigkeit angefangen, eine eisige Kälte in ihm umherzuschieben. Adam strampelte und versuchte sich mit Leibeskräften zurück an die Oberfläche zu befördern, doch es half nichts – er blieb an Ort und Stelle.

«Wach auf», hallte es druckvoll durch das Wasser. Das Wasser schien durch die Stimme zu schwingen und zu vibrieren. Im eisigen Griff des Wassers gefangen, war Adam überhaupt nicht aufgefallen, dass er seine Augenlider fest aneinandergepresst hatte und selbst für diese allumfassende Dunkelheit verantwortlich war. Es fühlte sich wie in einem Traum an, denn während des Träumens scheint alles realistisch zu sein. Gewisse Details passen dabei anschliessen nicht in die Realität, in die man aufwacht. Diese Konklusion kann in den meisten Fällen jedoch nur nach dem Aufwachen aufgestellt werden. So erging es auch Adam in dieser Situation. Er öffnete seine Augen und bemerkte, dass er überhaupt nicht von kompletter Dunkelheit umgeben war. Die Flüssigkeit schimmerte in einem leichten Blau um ihn herum.

In seinem Erstaunen über das Wasser traf ihn die Erkenntnis, dass er nicht am Atmen war. Wie lange dieser Zustand schon herrschte, konnte er nicht sagen. Ihn plagte überraschenderweise keine Atemnot oder sonstige Auswirkungen von längerem Sauerstoffentzug. Die nächste Druckwelle traf ihn mit höherer Intensität und richtete seine Aufmerksamkeit auf die folgenden Worte.

«Wirst du dein Geburtsrecht endlich benutzen, oder zusehen und sterben?» Im Wasser vor ihm bildete sich so etwas wie ein verschwommener Spiegel. Dieser zeigte eine Szenerie mit 4 Personen aus der Vogelperspektive. Adam erkannte sich selbst, die Frau und die beiden Gestalten. Einer der Männer ging auf ihn los und hatte ihn mit seiner Kralle fast schon am Hals erreicht. «Du bist im Begriff zu sterben Junge.» Der Stimme hallte eine enorme Dringlichkeit nach. Die Stimme hatte einen weiblichen Ton, vermutlich stammte sie von der Frau mit den grünen Augen. Ihr Augenkontakt war das Letzte, woran er sich vor der Bewusstlosigkeit erinnerte. «Was muss ich tun?» Adam konnte trotz des Wassers, das ihn umhüllte, mit klarer Stimme sprechen.

«Lass das Wasser gewähren, nimm es auf.» Adam musste nicht nachfragen, wie bei einer geistigen Übertragung wusste er, was damit gemeint war. Anstatt sich dagegen zu wehren, dass das Wasser in ihn floss, liess er es zu. Seine Gefühlsrezeptoren schienen ebenfalls zugehört zu haben, denn die Kälte peinigte ihn nicht, sondern schien ihn zu erfrischen. Sie fühlte sich mit einem Mal angenehm an und schärfte seine Sinne. Er spürte den Druck des Teiches auf sich lasten. Nicht nur Nase und Mund schienen Wasser aufzunehmen, sondern jede einzelne Pore seines Körpers.

Adam stand wieder in der Gasse. Seine Augen leuchteten in einem wunderschönen Hellblau. Mit einem kleinen Satz nach hinten brachte er sich vor dem tödlichen Angriff des Mannes in Sicherheit. Die Kralle sauste nur wenige Zentimeter vor seinem Hals ins Leere. Adam sah die beiden Männer mit seinem frostigen blauen Blick an. «Ihr sollt spüren, was ihr dieser Welt angetan habt.» Wie ferngesteuert sprach Adam. Die Atmosphäre seiner Stimme war getränkt von Bedrohlichkeit und Missgunst. Seine Worte schnitten direkt in die Realität, als könnte er allein durch seine Sprache die Schicksalsfäden neu verweben. «Ihr sollt jenen Schmerz fühlen, den ihr in dieser Welt verbreitet habt.»

Die Farbe in seinen Augen nahm an Intensität zu. Die beiden Männer konnten den Blick nicht von ihm wenden, genauso wie es Adam schon einmal mit einem der Männer erlebt hatte. Es war als wäre ihnen ein bindender Vertrag auferlegt worden. Die Schmerzen, die sie nun erleiden mussten, waren unbeschreiblich, ebenso ihre Schreie, die durch die dunklen Gassen hallten. Adam durchzuckte keine Gefühlsregung; wie weggetreten stand er da und starrte die beiden Männer nieder. Für sie war es unmöglich, den Blickkontakt mit seinen eiskalten Augen zu brechen. Erste Bluttropfen begannen ihnen aus den Augen zu laufen und trotzdem konnten sie nicht wegsehen. Unter dem höllischen Geschrei brachen ihre Stimmen, zuerst vom linken Mann, dann vom Rechten. Selbst als ihre leblosen Körper zu Boden sanken und die Schreie verstummten, sahen sie immer noch zu Adam hoch.

Er löste seinen Blickkontakt von den beiden Leichen, um sich nach der Frau umzusehen. Im selben Augenblick wurde sein Blickfeld dunkel, und dieses Mal wurde er in dieser Realität ohnmächtig. Er sackte zusammen und nur die ausgestreckten Arme der Frau verhinderten, dass sein Kopf auf dem modrigen Beton aufschlug. Seine Augen hatten die blaue Farbe verloren und waren mittlerweile geschlossen.

ADAM: Das Erbe des EmpathenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt