Der goldene Käfig

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Es war einmal eine bildhübsche junge Frau mit langen, prächtigen Haaren, die wie gesponnenes Gold über ihre zierlichen Schultern fielen. Schon als kleines Mädchen drehten sich die Köpfe nach ihr, wann immer sie das Haus verließ. „Sie ist die schönste im ganzen Land", flüsterten die Menschen hinter vorgehaltener Hand.

Das Mädchen wurde von aller Welt geliebt. Egal wohin sie ging, brachte sie ein Strahlen mit sich, das alles und jeden um sie herum erhellte. Ihr Lächeln strahlte wie die Morgen Sonne und konnte auch die trübsten Gemüter erhellen. Ihre Augen funkelten wie die Sterne am Nachthimmel und die sanfte Melodie ihrer Stimme berührte alle Herzen.

So lebte das einzigartige Mädchen, strahlend wie die Sonne und ihr Wesen erhellte die Herzen aller, die das Glück hatten sie zu kennen. Doch manch eine egoistische Seele, will alles schöne ganz für sich allein. Und so wurde ihr ihre Schönheit zum Verhängnis.

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Fahles, blondes Haar  umgibt ihr Gesicht wie ein Bilderrahmen. Ein Kunstwerk, das im Laufe der Zeit langsam verblasste. Die vergangene Schönheit, in den Umrissen noch zu erkennen, doch das strahlende Funkeln, dass sie einst umgab, ausgelöscht.

Wie jeden Morgen geht ihr erster Gang zum Waschbecken.

Sieben Schritte.

Zahnpasta, Zahnbürste, putzen, ausspucken. Der Griff zur Haarbürste. Langsam, quälend, Strähne für Strähne. Früher hätte sie nie erwartet, dass sie sich nach etwas so simplen wie einem Haargummi so sehr sehnen könnte. Doch er war fasziniert von ihrer Mähne, die einst golden war. Also trug sie sie offen. Eine Wahl hatte sie sowieso nicht.

Sechs Schritte zum Regal.

Ihre bleichen Fingerspitzen gleiten behutsam über die kalten Buchrücken. Rücken um Rücken reihen sie sich aneinander. Wie Soldaten stehen sie stramm in ihren Reihen. Seit endlosen, leeren Tagen sind sie ihre einzigen Gefährten, Freunde und Familie zugleich. Nur wenn sie sich zwischen den Seiten verliert, kann sie dem immer gleichbleibenden Wänden entfliehen. Ihre Hand greift, wie von selbst zu dem Buch, dass er ihr beim letzten Mal mitgebracht hatte. Schwer liegt es in ihrer blassen Hand.

Drei Schritte zum Tisch. Ein Schritt zum Stuhl.

Sie weiß, dass er bald kommen wird. Wie jeden Morgen. Wenn es denn wirklich morgen war. Am Anfang hatte sie versucht die Tage zu zählen. Jedes Mal, wenn sie aufwachte, heimlich einen Strich in die Wand hinter dem verfluchten Himmelbett zu kratzen. Zweihundertdreiundsechzig Striche. Dann war die Wand voll und sie hatte zu große Angst an einer anderen Stelle weiterzumachen. Das Risiko, dass er sie erwischen würde, war zu groß. Sie hatte gelernt sich keine Fehler zu erlauben. Zweihundertdreiundsechzig Striche. 263 Tage. Das ist schon lange her. An ihrem zweihundertdreiundsechzigsten Tag waren es noch einhundertzwei Tage bis zu ihrem Geburtstag. Ob dieser wohl bereits an ihr vorbeigezogen war? Spielte es denn überhaupt noch eine Rolle?

Seit sie in diesem goldenen Käfig sitzt spielt nichts mehr eine Rolle. Nur keine Fehler machen. Nichts anderes ist mehr wichtig.

Das metallene Klimpern holt sie zurück. Zurück in die kalte Realität. Das Klicken des schweren Türschlosses, stellt jedes Härchen auf ihren Armen auf. Sie atmet tief durch. Sie weiß, was nun von ihr erwartet wurde, was sie tun musste.

Es war Einmal - Zwischen den Zeilen GefangenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt