Ich blätterte lustlos in meinem Mathebuch herum. Josias war der Meinung, wir müssten unbedingt jetzt Hausaufgaben machen, und hatte sich dafür ordentlich an unseren Schreibtisch gesetzt, während ich mich auf dem Boden ausgebreitet hatte und Aufgabenstellungen anstarrte, ohne sie wirklich zu lesen. Weil ich mich nicht konzentrieren konnte.
„Wenn du weiter trödelst, wirst du nie fertig." Er warf mir über die Schulter hinweg einen mahnenden Blick zu, der nach ein paar Sekunden von Stirnrunzeln begleitet wurde, bevor er sich vollständig zu mir umdrehte. „Was ist los?"
„Findest du Maike hübsch?"
„Meine Ex?" Er musterte mich genauer. „Wir haben Schluss gemacht – du kannst mit ihr ausgehen, wenn du möchtest."
„Nein, ich will nicht mit ihr ausgehen." Frustriert richtete ich mich auf und verrenkte meine Beine, bis ich im Schneidersitz dasaß. „Ich will wissen, ob du sie hübsch findest."
Das Stirnrunzeln nahm an Intensität zu. „Ich schätze", sagte er schließlich langsam. „Die anderen Jungs finden sie hübsch, also ist sie das wohl."
„Meinst du, du weißt es nicht so genau, weil du vielleicht schwul bist?"
Sein Blick wanderte an mir vorbei. „Das wäre sehr unpraktisch. Homosexuelle haben es gesellschaftlich meistens schwerer als Heterosexuelle. Aber das ist allgemein unwichtig für mich."
Ich rutschte näher zu ihm hin. „Wieso ist das unwichtig für dich?"
„Weil nicht vorhabe, jemals wieder eine Beziehung zu führen."
Ich blinzelte. „Hast du nicht?"
„Nein." Er schlug seine Beine übereinander und verschränkte zeitgleich die Arme vor der Brust. „Möglicherweise werde ich mal heiraten, falls das irgendwelche Vorteile mit sich bringt, aber in diesem Zusammenhang wird es eine reine Zweckehe sein mit einer Frau, die weiß, dass ich sie nicht lieben kann."
„Hm." Ich rückte noch ein Stück weiter in seine unmittelbare Nähe. „Und denkst du, ich könnte schwul sein?"
Er legte den Kopf schief. „Vor ein paar Wochen hast du gemeinsam mit unseren Mitschülern die Mädchen in unserer Klasse nach Ansehnlichkeit bewertet."
„Ja, aber was ist, wenn mir auch Jungs gefallen?"
„Dann wärst du bisexuell und nicht homosexuell." Er hob die Schultern an. „Aber herausfinden solltest du es erst, wenn wir nicht mehr länger hier wohnen. Du weißt, wie konservativ Papa ist, und Gerüchte machen schnell die Runde. Vergiss es einfach für die nächsten vier Jahre, bis wir achtzehn sind."
Bloß waren vier Jahre so eine unendlich lange Zeit.
Ich entwirrte meine Beine wieder und streckte sie aus, wackelte mit den Zehen. „Wir ziehen dann direkt weg, oder? An meinem achtzehnten Geburtstag?"
„Sobald wir mit der Schule fertig sind und ich Zugriff auf das Konto erhalte, das Papa für mich angelegt hat. Vorher können wir nicht gehen, das können wir uns nicht leisten." Er nickte zu meinem Mathebuch hin. „Erst recht nicht mit deinen Noten."
Ich schnitt eine Grimasse. „So schlecht sind die gar nicht", murrte ich.
„Du hast überall nur Vierer."
„Und eine Vier ist ausreichend."
Er verdrehte die Augen und wandte sich wieder seinen Hausaufgaben zu, während ich aus dem Fenster nach draußen blickte.
Vielleicht hatte Efraim etwas Besseres dazu zu sagen.
Ich war vor Kurzem erst vierzehn geworden, Efraim würde in sieben Wochen fünfzehn werden. Es waren nur neun Monate Unterschied, aber trotzdem war er eine Klasse über Josias und mir. Deswegen sahen die Leute bei ihm besser aus als bei uns im Jahrgang.
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Fucking Vanilla
RomanceOstern fällt auf Weihnachten, als Judah in seinem Kalender die letzte Woche der zehnjährigen Haftstrafe seines Kindheitsfreundes Efraim einläuten darf. Der Einzige, der sich nicht über die bevorstehende Entlassung freut, ist sein Zwillingsbruder Jo...