01. Gestern habe ich Melatonin gekauft

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Gestern habe ich Melatonin gekauft. Nach der Arbeit. Ich hab meine Tasche gepackt, und dann bin ich zur nächsten Apotheke gelaufen und meinte: "Bonsoir, je cherche de la mélatonine, s'il vous plaît." — Ich brauche Melatonin. "Nicht die Tabletten, die krieg' ich nicht runter."

Die Frau hat mir eine dunkelblaue Dose entgegengestreckt. "Die sind gerade neu rausgekommen." Melatonin-Gummibärchen. Blaubeergeschmack, in kleinen Sternförmchen.

"Bonne soirée ! Au revoir", meinte sie noch zum Abschied und hat dann nach ihrer Kollegin gerufen. "Sylvie ? Tu partais à quelle heure déjà ?"

Die Melatonin-Sternchen waren mein erster Schritt zur Änderung. Denn irgendwas muss sich ändern. Und aus meiner Erfahrung der zahlreichen "Morgen fange ich an!"-Lebensverbesserungspläne weiß ich, dass mein Schlafrhythmus wahrscheinlich mein größter Endgegner ist. Alles andere ist eine Frage von Disziplin und Willenskraft.

Gestern Abend habe ich mir dann mehrere Benachrichtigungen auf meinem Handy gestellt, die mich je nach Wochentag zu einer bestimmten Uhrzeit erinnern, rechtzeitig mein Melatonin zu nehmen und meine Abendroutine anzufangen, sodass ich rechtzeitig müde und im Bett bin.

Und so fängt das Ganze wieder von vorne an. Das letzte Mal war vor vier Jahren, als ich mit siebzehn nach Paris gezogen bin nach meinem Abi und dem Sommer danach. Irgendwie habe ich es geschafft, jeden Tag um 5:00 Uhr morgens aufzustehen, obwohl ich nicht mal irgendeinen Termin hatte, für den ich rechtzeitig auf der Matte stehen musste.

Seitdem ist viel Zeit vergangen, und mein Leben sieht mittlerweile komplett anders aus — aber zumindest kann ich an diese Zeit in meinem Leben zurückdenken mit der Hoffnung und dem Wissen, dass ich es schaffen kann, weil ich es schon mal geschafft habe. 


Seit vier Jahren wohne ich in Paris — es hat 2020 nach meinem Abitur mit dem Plan angefangen, ein Auslandsjahr zu machen und dann nach 12 Monaten wieder zurück nach Hause zu ziehen. Nun haben wir 2024. In der Zwischenzeit habe ich ein Studium angefangen und abgeschlossen, bin nun offiziell Grafikdesignerin, außerdem verheiratet und spreche fließend Französisch.

Und vor drei Wochen haben mein Mann und ich entschieden, nach Berlin zu ziehen. Zurück nach Berlin, nach Hause. Ich vermisse Berlin. Mein ganzes Leben waren meine Familie und Freunde überall in der Welt verstreut, weshalb ich mich nie komplett heimatlich in Berlin gefühlt habe ... Nachdem ich zu Hause ausgezogen bin, sind meine Eltern und meine Schwester ebenfalls in eine andere Stadt umgesiedelt.

Wo ist jetzt also mein zu Hause? — Berlin, weil ich dort geboren und aufgewachsen bin? Paris, weil ich hier wohne, weil mein Mann hier her kommt, und weil das die Wurzeln unserer Kinder sein werden? Frankfurt, weil meine Familie dort ist? München, wegen der anderen Familienhälfte? Ungarn, weil dort meine Wurzeln sind? Wo ist mein zu Hause?

So ganz kann ich es auch nicht sagen, aber das weiß ich: der Gedanke, zurück nach Berlin zu ziehen, fühlt sich wie nach Hause kommen an. Mir fehlt es, mich zu Hause zu fühlen. In Paris habe ich meine kleine, gemütliche Wohnung und mittlerweile viele meiner engsten Freunde; außerdem die Liebe meines Lebens, meine Schwiegerfamilie, und viele viele wundervolle Erinnerungen der letzten vier Jahre. — Und trotzdem bin ich hier immer "die Deutsche".

Französisch ist meine dritte Fremdsprache. Mein Sprachniveau ist C2, also bin ich auf dem Papier genauso fähig, mich zu verständigen, wie jede muttersprachliche Person. Und trotzdem ist es auf Dauer echt anstrengend, locker zehn Stunden pro Tag, wenn nicht sogar mehr, auf meiner vierten Sprache denken und kommunizieren zu müssen.

Mein Mann und ich sprechen hauptsächlich Englisch zusammen, auf der Arbeit und die letzten drei Jahre in der Uni war aber alles immer komplett auf Französisch.

Manchmal versuche ich, mein Herz auszuschütten, und die Person vor mir versteht einfach nicht, was ich meine, weil das genaue Wort, was ich zu übersetzen versuche, einfach nicht so auf Französisch existiert, wie ich es auf Deutsch gesagt hätte. Ich vermisse es, sprechen zu können, ohne in der Mitte des Satzes steckenzubleiben und überlegen zu müssen. Ich vermisse es, ein Wort gezielt auszusuchen und damit spezifisch genug zu sein, anstatt noch drei Sätze dranzuhängen und andauernd drumherum reden zu müssen, weil Französisch weniger anpassungsfähig und detailliert ist als Deutsch.

In Paris zu leben bedeutet für mich, dass mein Gehirn konstant auf Hochtouren läuft und  Multitasking betreibt, und dass ich generell eine Stunde mehr Schlaf brauche, weil es verdammt nochmal anstrengend ist.

Ich will nach Hause. Ich kann nicht mehr.

Die Witze hier sind nicht witzig auf dieselbe Art wie in Berlin. Ich vermisse meine beste Freundin. Ich vermisse es, nicht immer kulturellen und Sprachkontext geben zu müssen, wenn ich meiner Familie Geschichten aus meinem Alltag erzähle.

Ich will nicht so tun, als wäre ein Umzug zurück in die Heimat eine lebensrettende Maßnahme, und als würde sich automatisch alles ändern, nur weil die Menschen um mich herum auf einmal Deutsch und meinen Humor verstehen. Aber ich musste einfach mal kurz mein Herz ausschütten.

Gleichzeitig wird sich aber trotzdem vieles verändern durch unseren Umzug nach Berlin:

-  Da wir beide gegen Ende des Jahres einen neuen Job anfangen, werden sich unsere Arbeitszeiten und damit unsere Routine komplett ändern. 

- In meiner Freizeit möchte ich eine Firma gründen, um einen meiner Kindheitsträume zu erfüllen und gleichzeitig meine Grafikdesign-Karriere weiterzuführen und ein Outlet für meine Kreativität zu haben.

- Wir kriegen einen Hund!! Als meine Eltern nach Frankfurt umgezogen sind, haben sie unseren Hund einer alten Schulfreundin meiner Mutter anvertraut, da es noch nicht sicher war, ob und wie lange sie in Frankfurt bleiben würden. Letzten Endes sind sie dort geblieben, und der Hund ist immer noch bei Mamas Schulfreundin ... aber mein Vater hat sie einen Vertrag unterschreiben lassen, laut dessen wir ihn jederzeit zurücknehmen können.

Ich will, dass sich viel verändert. Ich will einen neuen Lebensabschnitt. Ich will meinen Traum leben. Ich will nächsten Dienstag in meinem neuen Bett aufwachen und mich wie eine neue Person fühlen.

Ich glaube nicht an Manifestation und daran, irgendeine neue Realität in Existenz zu schreiben durch schiere Hoffnung; aber ich glaube, es hilft, sich auszumalen, wie die Dinge aussehen könnten, und dann - fake it 'til you make it - einfach anzufangen, dieses Leben aktiv zu Leben, bis es zur Routine wird und sich nach Mir anfühlt. 

Interessanterweise nennt sich dieser Prozess in der Bibel im griechischen Originaltext "Metanoia", was auf Deutsch als "Umkehr" übersetzt wird und tatsächlich einfach nur einen Umdenk-Prozess beschreibt. Metanoia besteht aus zwei Worten: meta - ein Wandel, ein 180°-Richtungswechsel, und noia, das Denken. Metanoia ist ein Sinneswechsel, der zu einem neuen Leben führt. Das ist es, was ich will.

Ein neues Leben kann nur nachhaltig sein, wenn es das Ergebnis eines Sinneswechsels ist - und nicht anders herum. Einen bestimmten Lifestyle zu leben funktioniert nur langfristig, wenn das Ganze aus Überzeugung passiert, weil ich wirklich daran glaube.

BESSER ALS GESTERN - a self healing journeyWo Geschichten leben. Entdecke jetzt