Kapitel 1

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Mystifikation

>> Sutton <<

„Sind Sie zu Besuch oder auf der Durchreise?", sprach mich der Kassierer an, während er mein Kleingeld zählte.

„Was hat mich verraten?", fragte ich, statt eine Antwort zu geben.

„Man sieht hier nicht oft einen Stadtflitzer", erläuterte der junge Kerl seine Frage.

Ich unterdrückte ein Seufzen. Ich wollte keinen Smalltalk halten.

„Zu Besuch", antwortete ich schließlich.

„Wen besuchen Sie denn? Man kennt sich hier, wissen Sie?"

Oh, ich war mir sehr sicher, dass er Gails Eltern kannte. Das Haus, die Farm und die ganze tragische Geschichte. Genau deswegen wollte ich auch keinen Smalltalk halten. Wenn herauskäme, dass eine Verwandte der Marwoods in der Gegend war, würde die ganze Stadt darüber tratschen.

„Bis zum nächsten Mal", schnappte ich mir den Kassenbon und rauschte aus der Tankstelle.

Das war vielleicht ein bisschen unhöflich, aber gäbe mir noch etwas Zeit.

Ich steckte den Schlüssel ins Fahrertürschloss meines weißen Honda Civic und rutschte ab. Der Schlüssel fiel mir aus der Hand direkt zu meinen Füßen. Unwillig brummte ich auf. Ich wollte den Mist doch einfach nur schnell hinter mich bringen.

Ehe ich mich bücken konnte, tauchten meine Schlüssel vor meiner Nase auf. Ich blickte auf. Mein Herz blieb stehen, um dann auf direktem Wege in den Magen zu rutschen. Ich wusste plötzlich nicht mehr, wie man atmete.

Fuck. Fuck. Fuck. So eine verfickte Kacke.

Ich kniff die Augen zusammen, betete für Millisekunden, dass ich mir seine Anwesenheit nur einbildete. Vorsichtig öffnete ich meine Lider wieder. Nein. Keine Einbildung.

Er war breiter geworden. Die jungenhaften Züge seines Gesichts hatten sich verflüchtigt. Geblieben waren volle Lippen, die einen um den Verstand küssen konnten. Gail war bereits in den Genuss gekommen. Zwar nur einmal, dennoch hatte sich diese Erinnerung sogar in mein Gehirn gebrannt und wollte auch nicht in den Untiefen meines Unterbewusstseins verschwinden.

Eine scharfe Kinnparte. Eine gerade Nase, die ein Schönheitschirurg nicht besser hinbekommen hätte, und leuchtendblaue Augen, die mich ein bisschen zu sehr an Gails Vater erinnerten. Wenn ich dem Mann vor mir den Hut abnähme, fände ich mit Sicherheit gewelltes, aschblondes Haar. Selbst wenn Dreißig Jahre vergangen wären, sein Gesicht mehr Falten aufwiese und graue Haare seinen Schopf zieren sollten, würde sie ihn wiedererkennen. Dank ihr wusste ich genau, wer vor mir stand.

Ich atmete scharf aus. Da stand er einfach. Ihr Alptraum in roter Uniform und plötzlich war mir Gail so nah wie in den letzten Jahren nicht mehr. Wie war er wohl heute drauf? Hatte er heute Lust ihr den letzten Nerv zu rauben oder befand er sich in einer der wenigen netten Phasen?

Konnte er sich noch an sie erinnern? Oder war Gail nur eines von vielen Mädchen gewesen? Dachte er manchmal an sie im positiven Sinne oder hatte er sofort ihre Familiengeschichte vor Augen?

Ich wischte meine plötzlich nassen Handflächen an der Jeans ab und bemühte mich das Zittern in meinen Händen unter Kontrolle zu bekommen, bevor ich die Hand hob, um nach dem Schlüssel zu greifen.

„Danke", presste ich brav hervor und hoffte, dass er unsere Ähnlichkeit nicht erkannte.

„Gail."

Oh Fuck. Fuck. Fuck.

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